Was waren das noch für gemütliche Zeiten, als Anfang des 18. Jahrhunderts ein gewisser Freiherr von Schleich um die Hand eines benachbarten Burgfräuleins anhielt und damit zum Erfinder der Schleich-Werbung wurde (kurz danach erfand er auch das schwäbische „Fahrradschleichle“, das später im Hochdeutschen höchst schlampig mit „Fahrradschlauch“ übersetzt wurde).* Heute würde sich der Edle im Grabe herumdrehen, wenn er wüsste, welch Schindluder inzwischen mit dem Namen seiner Erfindung getrieben wird (nein, nicht mit dem „Schleichle“, mit dem andern).
Zwei Fahrradschleichle – haben mit dieser Geschichte eigentlich nichts zu tun. (Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei)
So gilt es zum Beispiel in Frankreich neuerdings als „Schleichwerbung“, wenn Radio- und TV-Moderatoren auf die Twitter- oder Facebook-Accounts ihres Senders verweisen (die deutschen Medien haben das allerdings erst mit gut einwöchiger Verspätung mitbekommen). Der Conseil supérieur de l’Audiovisuel (sowas wie die staatliche Rundfunkaufsicht) hat das auf eine entsprechende Anfrage eines Fernsehsenders bereits Ende Mai mitgeteilt und sich dabei auf den Artikel 9 eines Dekrets aus dem Jahr 1992 berufen. Dort steht:
La publicité clandestine est interdite. Pour l’application du présent décret, constitue une publicité clandestine la présentation verbale ou visuelle de marchandises, de services, du nom, de la marque ou des activités d’un producteur de marchandises ou d’un prestataire de services dans des programmes, lorsque cette présentation est faite dans un but publicitaire.
Das muss ich eigentlich nicht übersetzen, denn es ist im Wesentlichen das Gleiche, was auch im deutschen Rundfunkstaatsvertrag steht:
Schleichwerbung (ist) die Erwähnung oder Darstellung von Waren, Dienstleistungen, Namen, Marken oder Tätigkeiten eines Herstellers von Waren oder eines Erbringers von Dienstleistungen in Sendungen, wenn sie vom Veranstalter absichtlich zu Werbezwecken vorgesehen ist und mangels Kennzeichnung die Allgemeinheit hinsichtlich des eigentlichen Zwecks dieser Erwähnung oder Darstellung irreführen kann. Eine Erwähnung oder Darstellung gilt insbesondere dann als zu Werbezwecken beabsichtigt, wenn sie gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung erfolgt. … Schleichwerbung, Produkt- und Themenplatzierung sowie entsprechende Praktiken sind unzulässig.
In Deutschland würde wohl kaum einer auf die Idee kommen, Gundula Gause der Schleichwerbung zu bezichtigen, wenn sie im ZDF-„Heute-Journal“ erklären würde, dass es weiterführende Informationen zu ihrer bemerkenswerten Frisur auf der Facebook-Seite der Sendung gäbe. Oder den Südwestrundfunk zu verdammen, weil ein verschnupfter SWR3-Moderator „Tempo“ statt „Papiertaschentuch“ sagt. Oder die „FFH“-Verkehrsservice-Dame zu steinigen, weil sie „Jehova“ sagt auf den „ffhblitzer“-Account bei Twitter verweist.
Nun sollte zwar ein Moderator generell darauf achten, was er in den Mund nimmt (etwa bei Sprossen – wegen EHEC), in Frankreich lauern dabei aber deutlich mehr Gefahren als bei uns. Nicht erst unter König Nicolas I. (auch Nicolas, der kleine Virile genannt*) sicherte sich die Politik dort weitgehenden Einfluss auf die Medien. So gibt es eine detaillierte „Radioquote„, die für jede Tages- und Nachtzeit genau regelt, wie hoch der Anteil nicht-französischer Musik im Programm sein darf, die Chirac-Regierung gab den früheren öffentlich-rechtlichen TV-Sender TF1 in linientreue Unternehmerhände und nahm anschließend die verbliebenen Staatssender Antenne 2 und France 3 noch heftiger an die Kandare als ohnehin schon.
Hat die Medien seines Landes fest im Blick: Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy. (Foto: Guillaume Paumier/Wikimedia Commons, CC-by-3.0)
Dass dem Élysée-Palast nicht genehme Journalisten und Sendungen geschasst werden, gehört auch heute noch zum Medienalltag. Und selbstverständlich kommen bei fast allen Sendern – egal, ob privat oder öffentlich-rechtlich – hauptsächlich Günstlinge des jeweiligen Königshauses bis ganz nach oben. Bloß blöd, dass dieses „réseau d’Internet“ nicht ganz so einfach zu kontrollieren ist – nun ja, Nicolas Sarkozy hat es zumindest versucht.
Man kann den Franzosen Einiges vorwerfen, übertriebene Anglophilie gehört sicher nicht dazu. Kaum ein anderes Land der Erde legt so viel Wert darauf, Anglizismen zu vermeiden und Begriffe aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum durch Wörter aus der eigenen Sprache zu ersetzen. Wenn das nicht möglich ist, werden englische Begriffe so frankophon ausgesprochen, dass der Ursprung nicht mehr erkennbar ist. Bleiben noch die wenigen Fälle, in denen auch das nicht die gewünschte Wirkung hat. Dann hilft nur noch die von oben verordnete weitgehende Verbannung dieser Begriffe oder Markennamen aus dem täglichen Sprachgebrauch.
Der Stolz des Franzosen auf seine Grande Nation lässt es streng genommen nicht zu, dass eine nicht-französische Marke zu einem Gattungsbegriff werden kann. „Twitter“ statt „réseau de microblogage“? „Facebook“ statt „réseau social“? Bloß nicht! Schon gar nicht in Radio und Fernsehen! Und wenn doch – so steht es in der Entscheidung des Conseil supérieur de l’Audiovisuel (CSA) -, dann nur, wenn es in einer Nachricht dezidiert um die betreffenden Unternehmen geht. Wenn also Facebook mal wieder Schlagzeilen wegen unzureichenden Datenschutzes macht oder Twitter ein anderes Unternehmen (wie neulich Tweetdeck) kauft.
Vielleicht stehen Sie ja jetzt ein wenig auf dem „Schleichle“ (oder meinetwegen „Schlauch“): Wie kann sich der CSA in seiner neuen Entscheidung auf ein Dekret aus dem Jahr 1992 berufen, als es noch nicht mal das „World Wide Web“ gab, geschweige denn irgend ein soziales Netzwerk im Internet? Nun, es gab immerhin schon Coca Cola (amerikanisch), McDonalds (auch amerikanisch, in Frankreich als McDo geläufig) oder Kleenex (USA), die selbst in Frankreich zu generalisierten Markennamen wurden und in Radio und TV weitgehend verschwiegen werden sollten (übrigens mit durchschlagendem Erfolg: Frankreich ist für McDonalds nach den USA der umsatzstärkste Markt). Und selbstverständlich gelten für die Medienhüter auch heute noch die Maßstäbe dieser längst vergangenen Epoche, als das Télétel in Frankreich weit erfolgreicher und verbreiteter war als das Internet weltweit.
Damals hatte sich übrigens niemand daran gestört, wenn im Fernsehen oder Radio der Begriff Minitel fiel (der eigentlich nur das Terminal bezeichnet, aber im Alltagsgebrauch auch zum Synonym für Télétel wurde) – keine Rede von „publicité clandestine“ (Schleichwerbung). Dieses Videotext-Telefonnetz war ja weitgehend konkurrenzlos (wie heutzutage Twitter), aber vor allem war es französisch. Ich stelle mal die steile These auf: Wenn vor ein paar Jahren einige schlaue Franzosen für’s Internet einen Mikroblogging-Dienst namens „Blabla.fr“ und ein soziales Netzwerk (vielleicht „MillionsVisages.fr“) mit Hauptsitz in Paris erfunden und zum Welterfolg geführt hätten, dann müsste sich heute kein französischer Moderator krampfhaft überlegen, mit welchen gestelzten Umschreibungen er auf die dort angesiedelten Angebote seines Senders verweisen könnte.
* Vorsicht! Einiges in diesem Beitrag ist aus humoristischen Gründen frei erfunden, Anderes dagegen humoristisch, aber nicht erfunden.
Danke für den ausführlichen und unterhaltsamen Artikel. Das hebt sich angenehm von den alarmierenden Tweets (Schleich…) ab, die melden „Twitter und Facebook (Doppelschleich…) in Frankreich verboten“.
PS Der Minister, der gegen die Anglizismen vorging, ist heute noch als Mister Allgood (Toubon) in Erinnerung