Die Abstraktion der großen Zahl

Was glauben Sie, wie viele Sexualmorde an Kindern es jedes Jahr in Deutschland gibt? Einige Dutzend, vielleicht hundert? Auf solche Größenordnungen könnte man in der Tat kommen, wenn man regelmäßiger Nutzer diverser Boulevard-Medien ist, deren Geschäftsgrundlage aus Angst und Panikmache besteht. In Wahrheit waren es aber von 2003 bis 2010 im Schnitt weniger als drei Fälle pro Jahr – die Zahl hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sogar stark reduziert. Es war eben früher nicht alles besser, es wurde halt medial nicht so breitgetreten wie heutzutage.

Das Risiko, einem solchen Verbrechen zum Opfer zu fallen, wird aber nicht nur wegen des Medien-Hypes von Vielen wesentlich zu hoch eingeschätzt. Offensichtlich fehlt es uns an der Fähigkeit, sich das Verhältnis der tatsächlichen Fälle zur Dimension der Bevölkerungszahl in Deutschland vorzustellen. Derzeit sind es rund 82 Millionen, davon etwa 13,3 Prozent (knapp 11 Millionen) im Kindesalter bis 14 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit für ein einzelnes Kind, Opfer eines Sexualmordes zu werden, beträgt also jährlich etwa eins zu 3,66 Millionen. Solche großen Zahlen sind für die meisten von uns nicht fassbar und deshalb auch nicht vernünftig zu relativieren.

Anderes Beispiel: Stellen Sie sich einen Rasen-Fußballplatz vor. Auf dem hat jemand einen Grashalm farblich markiert. Versuchen Sie jetzt, auf Anhieb diesen Grashalm zu finden – damit es nicht zu leicht zu wird, werden Ihnen vorher die Augen verbunden. Fehlversuche sind nicht erlaubt, der erste Griff muss sitzen.

Sportplatz
Rund 140 Millionen Grashalme wachsen auf diesem Rasenplatz – finden Sie den richtigen! (Foto: Jared Preston@Wikimedia Commons, Lizenz: cc by-sa 3.0)

Unmöglich? Eigentlich ja, aber trotzdem versuchen jede Woche Millionen Deutsche, mit Lottospielen einen Sechser mit Superzahl zu schaffen. Die Wahrscheinlichkeit ist in beiden Fällen die gleiche: Eins zu 140 Millionen. Etwas günstiger wird diese Relation, wenn Sie nur auf den Sechser ohne Superzahl spekulieren (1:14 Millionen) oder wenn Sie einen Lottoschein komplett mit zwölf verschiedenen Zahlenkombinationen ausfüllen. Dagegen haben Sie im Lotto „6 aus 49“ eine rund 98prozentige Chance, völlig leer auszugehen – also noch nicht mal drei Richtige zu erraten.

Die äußerst geringen Gewinnwahrscheinlichkeiten werden aber offenbar viel zu hoch eingeschätzt oder bewusst ausgeblendet. Das meist gehörte Argument: Es gibt doch immer wieder Millionen-Gewinner im Lotto, also kann es ja nicht unmöglich sein. Der Statistiker lächelt dazu und weiß: Wenn 10 Millionen Deutsche für eine Ziehung jeweils ein Lottokästchen ausfüllen, liegt die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser schon bei sehr günstigen 1:1,4. Nur eben leider nicht bei Ihnen als Einzelperson, sondern bei der Gesamtheit aller Spieler.

Lottozahlen-Ziehungsgerät
Ersetzt im deutschen Lotto die Grashalme auf dem Fußballplatz: Das Ziehungsgerät in Frankfurt. (Foto: Emkaer@Wikimedia Commons, Lizenz: cc by-sa 3.0)

Dabei müssen es nicht mal Millionen-Dimensionen sein, die uns verwirren. Lesen Sie einfach mal einen Monat lang die Todesanzeigen in einer Tageszeitung (das sind diese großen bedruckten Papierbögen, von denen Ihnen Ihre Eltern oder Großeltern vielleicht schon mal erzählt haben). Wie viele der Verstorbenen oder trauernden Familien kennen Sie persönlich? Vermutlich keine – und das, obwohl Ihre Ortschaft vielleicht nur etwa 7.200 Einwohner hat (das ist so ungefähr die Durchschnittsgröße aller deutschen Gemeinden). Selbst gut vernetzte und gesellige Mitbürger dürften es auf nicht mehr als rund 200 persönliche Bekanntschaften in ihrem Heimatort bringen – bleiben noch 7.000 Unbekannte oder rund fünf öffentliche, von „Bild“ verpetzte und deshalb außer Kontrolle geratene Facebook-Partys.

Das allein ist schon eine erschlagend große Zahl. Aber jetzt multiplizieren Sie die 7200 Einwohner noch mit 11.343, der Anzahl aller deutschen Gemeinden. Das Ergebnis katapultiert uns in die völlige Unfassbarkeit der insgesamt rund 82 Millionen, von denen hier anfangs die Rede war.

Viel eher begreifbar sind dagegen diese Zahlen: 3.648 Menschen kamen 2010 in Deutschland bei Verkehrsunfällen ums Leben, knapp 400 werden pro Jahr ermordet, 51 starben dieses Jahr bisher an EHEC bzw. HUS, knapp drei Kinder fallen derzeit im Schnitt jährlich einem Sexualmord zum Opfer – jeder Einzelfall unermesslich tragisch, aber für jeden Einzelnen von uns bei Weitem nicht so bedeutsam oder beunruhigend, wie es uns die Medien und unser mathematisch überforderter Verstand glauben machen wollen.

3 Gedanken zu „Die Abstraktion der großen Zahl

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