Wenn die Vernunft kentert

Sinkende Costa Concordia
Das Mitte Januar 2012 havarierte Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia“. (Foto: Rvongher@Wikimedia Commons, Lizenz: CC-by-sa 3.0)

Es ist ein Kreuz mit dieser „Schwarmintelligenz“. Einerseits kann sie so tolle Dinge erschaffen wie eine Internet-Enzyklopädie, andererseits aber auch „Social Media“-Abteilungen von Unternehmen in den Wahnsinn treiben – vor allem, wenn mehr „Schwarm“ als „Intelligenz“ im Spiel ist.

Da entschuldigt sich eine Einzelhandelskette auf ihrer Facebook-Seite schnellstmöglich und demütigst für etwas, für das sie nichts kann, erklärt das auch verständlich – und was erntet sie dafür noch Tage danach? Zum großen Teil verständnisvolle Akzeptanz, aber auch jede Menge Ignoranz, Unverständnis und haarsträubende Kritik:

„Is ja der Hammer ! Da hat doch echt jemand gepennt,
wenn es echt ist !“

„EDEKA….wir lieben Kreuzfahrtschiffe….“

„Ouch !!!“

„boar wie krass. son zufall. wieviel kreuzfahrtschiffe gibt es auf der welt? wieviele davon verunglücken jedes jahr? nun rechnet mal die wahrscheinlichkeit aus, das genau, wenn ihr als unternehmen eine reise auf einem kreuzfahrtschiff bewerbt, dieses eine schiff kurz nach der verteilung der prospekte kentert.“

Nein, es hat niemand „gepennt“ bei Edeka – die „Costa Concordia“ havarierte erst nach Druck und Vertrieb der Beilage, in der für eine Reise mit dem Kreuzfahrtschiff geworben wurde. Es war keine „Panne“, kein „Hammer“, kein „Ouch“ und eigentlich auch kein „Zufall“.

Fastvoice-Eigenwerbung

Dazu ein kleiner Ausflug in die abstrakte Welt der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Derzeit gibt es rund 300 Kreuzfahrtschiffe auf hoher See, dazu zahlreiche Hochseefähren. Für alle wird weltweit ständig, mehrfach und parallel in unzähligen Print-Anzeigen, Werbebeilagen, TV-Berichten, Katalogen und Online-Reiseportalen geworben. Mehrmals im Jahr kommt es zu teils katastrophalen Havarien, Bränden und technischen Defekten – zeitweise gab es sogar durchschnittlich einen solchen Vorfall pro Monat.

Wie groß ist nun die Chance, dass kurz zuvor die Edeka-Tochter „Neukauf-Reisen“ für die Fahrt in einem dieser Unglücksschiffe geworben hat – etwa in ihrem Online-Buchungsportal? Richtig: 100 Prozent, denn sie hat so gut wie alle aktiven Hochsee-Kreuzfahrer im Programm. Zufall ist diesmal nur, dass die „Costa Concordia“ unter anderem in einer Werbebeilage von „Edeka Südwest“ vorgestellt wurde. Getroffen hat es aber auch fast gleichzeitig das österreichische Unternehmen „Eurotours International/Hofer-Reisen“ (wahrscheinlich gilt das für noch weitere Druckwerke irgendwo auf der Welt).

Und wenn das nächste Kreuzfahrtschiff einen Felsen rammt und kentert, dann wird es auch wieder mindestens ein Unternehmen weltweit geben, das gerade einen Reiseprospekt oder -Flyer dafür verteilt hat und dieses nun peinlich wirkende Papier nicht mehr zurückrufen und einstampfen kann. Die wirkliche Panne dabei ist meines Erachtens auch nicht die unglückliche Parallelität von Werbung und Katastrophe, sondern – abgesehen von menschlichen Tragödien – die riesige Umweltgefahr, die vom billigen, hochgiftigen Raffinerie-Abfallprodukt „Schweröl“ ausgeht, mit dem die Reedereien aus Kostengründen ihre Luxus-Pötte volltanken.

Vielleicht sollten wir mal lieber über diesen Skandal reden statt über Werbebeilagen.

9 Gedanken zu „Wenn die Vernunft kentert

  1. Pingback: Fastvoice-Blog » Blog Archive » Das Edeka-”Costa Concordia”-Paradoxon (Update)

  2. Die Reaktion von EDEKA zeigt die große Angst vor dem „shitstorm“, den die Firmen heute haben. Und wieder einmal zeigt sich, dass der gute alte analoge Dorftratsch lebt.

    Zum echten Skandal -> Hamburg hätte im letzten Jahr beinahe seinen Label Umweltstadt verloren wegen der vielen dicken Pötte wie QM2, die beim Besuch von 36 Stunden mehr Abgase in die Luft pusten als alle Pkws und LKws zusammen.

  3. Hofer ist doch der Name von Aldi in Österreich, nicht?

  4. Der Graphitti-Blog hat im November eine sehr treffende Grafik zum Verhalten von Internetnutzern veröffentlicht: http://www.graphitti-blog.de/2011/11/15/was-denkt-der-internet-benutzer/

    „Vielleicht sollten wir mal lieber über diesen Skandal reden statt über Werbebeilagen.“

    Ihr Wort in – ja, wessen Ohr eigentlich? Das der Schwarm-„Intelligenz“? Spätestens seit einige ganz lustige sich mehrheitlich für einen Bud-Spencer-Tunnel eingesetzt haben, glaube ich immer weniger daran. Vielleicht ist es aber auch schlicht ein gesellschaftliches Problem: Anderswo werden mit dem Internet Revolutionen organisiert, in Deutschland Facebook-Partys.

    Und das hochgiftige Schweröl ist ja nicht das einzige Problem bei dieser Form des Tourismus. Es sind auch die miserablen Arbeitsbedingungen für das Personal. Und es ist auch das regelrechte Erstürmen angefahrener Küstenstädte durch eine Horde tausender Touristen, die zwar kaum Geld im Ort lassen (gegessen und übernachtet wird ja auf dem Schiff), aber jegliche nachhaltige Ansätze zum Scheitern verurteilen lassen. Wer will schon in einem Ort Urlaub machen, in dem jeden Tag diese stinkenden Kähne anlegen und die Massen ausspucken?

  5. Wie unglaublich treffend! Dieser Shitstorm wider besseren Wissens fiel mir auch bei der Aktion „Wir boykottieren die EM 2012 in der Ukraine“ (das mit den Hunden, you know?) auf, bei dem die Facebook-Spammerei losging, NACHDEM bereits interveniert wurde.

  6. Pingback: Fastvoice-Blog » Blog Archive » “Spotify” und die erfundenen 200 GEMA-Millionen

Kommentare sind geschlossen.