Hält Kritiker für „kastriert“: Paulo Coelho. (Foto: Eirik Solheim@Wikimedia Commons, Lizenz: CC by-sa 2.0)
Die Journalistin Esther Ruppert-Lämmer hat mich am Wochenende auf einen Tweet des brasilianischen Schriftstellers Paulo Coelho aufmerksam gemacht:
Frei übersetzt heißt das:
Kritiker sind wie Eunuchen in einem Harem. Sie wissen, wie’s geht, aber … es fehlt ihnen was
Nun ist ja bekannt, was Harems-Eunuchen nach der Kastration fehlte. Aber was fehlt den Kritikern? Eier? Fachliche Fähigkeiten? Das Recht, über eine Kunst zu urteilen, die sie selbst nicht ausüben können? Coelho meint vermutlich Letzteres. Es ist die alte Vermutung, dass zum Beispiel Musikkritiker verhinderte Musiker oder Literaturkritiker verkannte Autoren sind, die ihren mangelnden Erfolg und die fehlende Anerkennung durch die Kritik an Arbeiten von „wirklichen Künstlern“ kompensieren. Ähnliches wird häufig auch Medienkritikern vorgeworfen. Könnte ja sein, dass hinter einer vernichtenden TV-Kritik die frustrierte Seele eines Möchtegern-Fernsehstars steckt.
Möglich, dass diese Vermutung in Einzelfällen stimmt, es spielt aber für die Kritik in ihrer eigentlichen Funktion kaum eine Rolle. Denn wo kämen wir hin, wenn nur erwiesenermaßen erfolgreiche Musiker, Schriftsteller, Entertainer, Schauspieler etc. ihre jeweiligen Kollegen öffentlich kritisieren und beurteilen dürften? Zum Einen gäbe es wegen der oft unter Kollegen vorhandenen Beißhemmung kaum negative Kritik, zum Anderen könnten wir Konsumenten zwar eine Menge über handwerkliche Details erfahren, aber kaum etwas über die Gesamteinordnung eines Werks und seine mögliche Wirkung auf uns.
Nicht umsonst gibt es etwa „Musician’s Music“, also Musik von Musikern für Musiker, die sonst aber keine Breitenwirkung erzielt, cineastische Juwelen in Programmkinos für Liebhaber ausgefeilter und lange gehaltener Kameraeinstellungen oder literarische Kunststücke, die weitgehend im Verborgenen blühen, aber anderen Autoren Tränen der Ehrfurcht in die Augen treiben. Das alles hat seine Berechtigung, dient häufig auch als Impuls- und Ideengeber für spätere „Mainstream“-Werke, kann aber nie der allgemein gültige Maßstab sein.
Als langjähriger Radiomoderator kenne ich das aus unzähligen „Airchecks“, wo Fachleute (oder solche, die sich dafür halten) in Vier- (oder mehr) Augen-Gesprächen Aufzeichnungen von Sendungen unter die Lupe nehmen, Themenauswahl, Sprache, Emotion, Musikmischung, Jingle-Einsätze, Timing und vieles mehr beurteilen und Verbesserungsvorschläge machen. Das kann ein gutes Werkzeug für die zukünftige Ausübung des Handwerks sein, aber nicht der alleinige Maßstab. Schließlich habe ich Radio nie für Programmchefs, Kollegen oder „Berater“ gemacht, sondern ausschließlich für Hörer/innen.
Hörer haben in der Regel keine Fachkenntnisse über meine Arbeit, können aber sehr gut beurteilen, ob ihnen etwas zusagt oder nicht. Das härteste Urteil ist dabei der Ab- oder Umschaltknopf, des beste Urteil die unerschütterliche Treue zu einer Sendung und eine überdurchschnittlich lange Hördauer. Ab und zu gibt’s dann sogar individuelle Rückmeldungen per Telefon, E-Mail, Foren- und Blogeintrag oder Brief (ja, auch die „Schneckenpost“ wird noch vereinzelt genutzt). Zweimal im Jahr lässt außerdem die von Telefonumfragen gespeiste „Medienanalyse“ der „ag.ma“ gewisse Rückschlüsse auf die Popularität einer Sendung zu.
Eine regelmäßige publizierte professionelle „Radio-Kritik“ (analog zu den zahlreichen TV-Kritik-Angeboten) gibt es dagegen nicht. Dafür ist das Medium zumindest in Deutschland zu beliebig und zerfasert geworden – meist reicht die Bedeutung eines Senders nicht über zwei Bundesländer hinaus und wirklich bedeutsame Sendungen sind selten. Mit „Kritikern“, wie sie Coelho vorschweben, hatte ich also nie zu tun.
Trotzdem weiß ich, dass wertvolle Rückmeldungen durchaus von Menschen kommen können, die in Coelhos Sinn „Eunuchen“ sind – denen also zum Beispiel die Fähigkeit abgeht, eine Radiosendung am Mischpult als „Selbstfahrer“ zu moderieren. Diese – häufig ziemlich überraschenden – Hinweise können sie nur deshalb liefern, weil sie das Handwerk selbst nicht beherrschen und deshalb eine andere, umfassendere Perspektive auf das Werk haben als der Schöpfer: „Weitwinkel“ statt „Teleobjektiv“.
Coelho müsste das eigentlich auch wissen. Schließlich ist er ein weltweit anerkannter und mit Preisen überhäufter Bestellerautor, der über 75 Millionen Bücher verkauft hat und damit zu den zehn erfolgreichsten Schriftstellern der Gegenwart gehört. Der Mann macht also was richtig und zwar richtig gut. Verrisse der professionellen Kritik könnten ihm eigentlich am Allerwertesten vorbei gehen. Dass sie ihn offenbar dennoch teilweise ärgern, mag verständlich sein. Es ist aber kein Grund, Kritiker mit kastrierten Haremswächtern gleichzusetzen. Ohne diese „Arroganz des Wissenden“ fände sich ja vielleicht in der einen oder anderen „Eunuchen“-Kritik noch etwas Hilfreiches, das der Vervollkommnung des eigenen Handwerks dienen könnte.