Viele Fragen wurden bereits beantwortet in der so genannten „Plagiatsaffäre“ von Karl-Theodor zu Guttenberg, einige sind jedoch noch völlig offen und machen mich sehr ratlos. Sind Teile der Dissertation tatsächlich keine Plagiate im engeren Sinn, wie der Bundesverteidigungsminister behauptet? Gab es wirklich keinen Vorsatz, keine Täuschungsabsicht beim Abschreiben? Schwer zu glauben bei den bisher 286 Seiten der Doktorarbeit, auf denen das Guttenplag Wiki unreferenzierte Übernahmen aus anderen Quellen gefunden hat.
Der ehemalige Doktor Karl-Theodor zu Guttenberg, hier sehen Sie nur eine seiner Seiten. (Foto: Harald Dettenborn@Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 3.0)
Haben wir es (nach Ansicht eines Teils der Bevölkerung und eines kleinen Teils der Medien) mit einer Hetz- und Schmutzkampagne gegen den beliebtesten Politiker Deutschlands zu tun, weil die Plagiatsaufdeckung und später die Rücktrittsforderungen vorwiegend aus Kreisen der Opposition kamen? Das kann man sicher nicht ganz von der Hand weisen, denn natürlich nutzt (vor allem im Vorfeld von Wahlen) die politische Opposition sehr gerne echte oder vermeintliche Schwächen des Gegners zu ihrem Vorteil. Genau das ist aber eine der Aufgaben einer Opposition in der Demokratie und kann ihr deshalb nicht zum Vorwurf gemacht werden. Sowohl Kritik als auch Zustimmung zu Guttenberg sind inzwischen ohnehin Partei- und Lager-übergreifend und haben mit „Hetze“ oder „Schmutz“ wenig zu tun.
Wie kommt es, dass Guttenberg selbst nach Einräumens „erheblicher Fehler“ und der Aberkennung des Doktorgrades laut zahlreichen (teils auch repräsentativen) Umfragen noch die mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung genießt? Auch das ist sicher nicht einfach zu beantworten; wie bei den anderen Fragen hilft uns simples Schwarz/Weiß-Denken hier nicht weiter.
Zugegeben: Ich kenne Guttenberg nur aus den Medien und bin (auch politisch) gegen ihn und seine Partei voreingenommen. Erwarten Sie also bitte keine strikt objektive Sicht der Dinge, höchstens den Versuch einer Deutung, der noch dazu provokant und höchstwahrscheinlich nicht mehrheitsfähig ausfällt. Ich vermute nämlich bei der Person Guttenberg mangelnde soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz (hat nichts mit dem populären „IQ“ zu tun) und eine fast pathologisch zu nennende Realitätsferne, die Ansätze einer Schizophrenie zeigt.
Bezeichnenderweise hieb Bundeskanzlerin Merkel unabsichtlich in die gleiche Kerbe, als sie anmerkte, sie habe „keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter“, sondern einen fähigen Verteidigungsminister ins Kabinett geholt – als ob verschiedene Persönlichkeiten innerhalb der Person Guttenberg zu finden seien. Wenn Merkel hier richtig liegt, dann hat der Mann wirklich ein ernstes Problem.
Natürlich gibt es in jedem von uns gute und schlechte Charakterzüge und alles in der Grauzone dazwischen, aber nur die Gesamtheit dieser Facetten macht die Persönlichkeit, das Wesen eines Menschen aus. Nur so kann es passieren, das bis dahin vorbildlich agierende Personen unter bestimmten Voraussetzungen zu Amokläufern, Vergewaltigern, Schlägern, Steuerhinterziehern etc. werden können – prominente Beispiele für all dies gab es in den vergangenen Jahren zuhauf. Waren diese Personen zum Zeitpunkt ihrer Taten andere als vorher? Nein, es kam nur ein bis dahin unterdrückter Wesenszug zum Vorschein. Die so genannte „Zivilisation“ unserer Gesellschaft dient dabei nur als dünne Decke zwischen menschlichen Trieben und Schwächen und dem tatsächlichen Handeln. Diese Decke weist immer wieder Löcher auf und kann zeitweilig auch großflächig reißen, wie uns die Geschichte unseres Landes etwa im vergangenen Jahrhundert lehrt.
Der Umgang Guttenbergs mit seiner umfangreich abgekupferten Dissertation und den Reaktionen darauf erinnert mich an ähnlich gelagerte Persönlichkeiten, die vor allem im mir sehr gut bekannten Medienbereich zu finden sind. Immer wieder gibt es dort junge, höchst ehrgeizige Kräfte, die sich selbst von vornherein auf der Überholspur sehen und denen alle Mittel recht sind, um ihre Triebe nach Anerkennung, Bewunderung oder gar Verehrung zu befriedigen. Unvergessen bleibt mir der Mitarbeiter eines kleinen Lokalradios, der Ende der 1980er unablässig und mit zahlreichen teuren Telefonaten in die USA versuchte, ein Interview mit Michael Jackson zu bekommen und dieses von vornherein aussichtslose Unterfangen allen Ernstes für realistisch hielt. Es dauerte nicht lange, bis er in stationäre psychologische Behandlung musste, weil er auch sonst keinen Draht mehr zur tatsächlichen Arbeit und Umwelt fand.
Wahrscheinlich sitzt auch bei Guttenberg ein kleines Teufelchen im Kopf, das ihn immer wieder zu Höchstleistungen antreibt, selbst wenn sie unmenschliche Dimensionen annehmen und objektiv nicht zu absolvieren sind. Er muss ja schließlich wegen seiner Herkunft etwas Besonderes sein, bildet er sich ein – der legendäre Familienstammbaum sitzt ihm dabei wie ein bleischweres Gewicht im Nacken. Aber weil er als Mensch nun leider nichts Übermenschliches leisten kann, muss er nach außen hin zumindest die Illusion von Überlegenheit transportieren. Die Mammutarbeit einer Dissertation erschien ihm da offenbar ab Ende der 1990er gerade richtig, obwohl die familiären und zeitlichen Umständen das eigentlich nicht erlaubten.
Das Ziel „Doktortitel“ fest vor Augen, schien ihm der Zweck die Mittel zu heiligen. Und hier begannen gefühlte und tatsächliche Realität immer weiter auseinander zu klaffen: Seitenweises Abschreiben bei zahlreichen ungenannten Quellen? Schlampige Referenzierungen? Eine kleine Fahrlässigkeit, wird schon nicht auffallen. Tat es zuerst auch nicht, womit sich Guttenberg bestätigt fühlen konnte. Ab einem gewissen Punkt scheint es dann auch kein Unrechtsbewusstsein mehr gegeben zu haben, anders ist Guttenbergs erste Reaktion nach Aufdeckung der Plagiate nicht zu erklären. Die Vorwürfe seien abstrus, die Doktorarbeit sei kein Plagiat. Wahrscheinlich hat er das selbst sogar geglaubt.
Die „Ghostwriter„-Theorie halte ich dabei für nicht sehr wahrscheinlich, weil Guttenberg durch das Auseinanderdriften seiner „Realitäten“ sehr gut sein eigener Ghostwriter hätte sein können, ohne das ein Teil seiner Persönlichkeit das heute noch auf Anhieb wissen musste. Als die objektive Realität in den letzten Tagen seine eigene Realitätskonstruktion Stück für Stück zum Einsturz brachte, schien für ihn die erste Regel der Blender und Hochstapler zu gelten: Nur soviel zugeben, wie man unbedingt muss, und das auch nur scheibchenweise. Was aber, wenn diese Erkenntnisse bei ihm – wie bei der Membran einer Brennstoffzelle – tatsächlich nur langsam vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein sickerten? Dann hat er nach eigener Erkenntnis nicht gelogen, dafür jedoch ein ernstes psychologisches Problem.
Eigentlich ist der „Guttenberg“ nun zum „Lügenhügel“ geschrumpft, aber nicht in der eigenen Wahrnehmung und der seiner Anhänger. Denn wer jahrelang einen politischen Hoffnungsträger Messias-ähnlich auf den Sockel hebt (und Guttenberg selbst hat das schon lange vor seinen Fans getan), der lässt sich diese Verehrung nicht von irgendwelchen dahergelaufenen linken Spatzen kaputtreden – man müsste sich ja sonst selbst in Frage stellen. Ein wenig spielt da natürlich die politische Präferenz eine Rolle, teils aber auch der geistige, soziale, emotionale Horizont und die Fähigkeit zur Selbstreflexion. „Er ist halt auch nur ein Mensch mit Fehlern“, lautet eine häufig zu hörende Erklärung für die nicht nachlassende Bewunderung, „und ob er bei seiner Doktorarbeit ein bisschen geschummelt hat, ist uns wurscht. Wir haben doch auch bei Klassenarbeiten abgeschrieben“.
„Legal? Illegal? Scheißegal!“ Dieses Prinzip kennen wir noch von einer völlig anderen Klientel aus den Straßen- und Häuserkämpfen vor gut 40 Jahren, hat aber inzwischen offenbar große Teile der Gesellschaft durchdrungen – angefeuert vom Fehlverhalten zahlreicher Prominenter aus Politik, Wirtschaft und Showgeschäft. Vielen Benachteiligten und Bildungsfernen in unserem Land erscheint das sympathisch, weil sie nicht begreifen, dass sie davon nicht profitieren – im Gegenteil: Durch dieses Prinzip erodiert die Gesellschaft immer mehr. Ein Gemeinwesen kann nicht funktionieren, wenn dessen Regelwerk großflächig missachtet wird, wenn die Solidarität gegen Null tendiert und der kleine Teil der Reichen und Mächtigen durch Missachtung der Regeln immer reicher und mächtiger werden kann, während der Rest sich (egal, ob regeltreu oder nicht) mit den Brosamen zufriedengeben muss.
Wenn die Kanzlerin nun an Guttenberg festhalten will, haben wir möglicherweise weiterhin einen Verteidigungsminister mit auseinander driftenden Realitäten (worauf auch seine wechselnden Kommunikationstrategien in Sachen „Kunduz“, „Gorch Fock“ und „Wehrpflicht“ hindeuten) und vor Allem ein weiteres, verheerendes Signal für das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft.
Update 26.2.: Inzwischen hat auch der Staatsrechtler Prof. Dr. Oliver Lepsius, Nachfolger des Guttenberg-Doktorvaters Peter Häberle an der Uni Bayreuth, klare Worte geäußert. In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk nannte er Guttenberg einen „Betrüger“. In einem Nebensatz kommt er zur gleichen Vermutung wie ich: Das hartnäckige Leugnen einer Betrugsabsicht könne auf einen Realitätsverlust und damit auf ein ernstes psychologisches Problem hindeuten.
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