Justiz ist kein Werkzeug der Rache

Insel Utøya
Schauplatz eines Massenmordes: Die norwegische Insel Utøya, im Vordergrund die auf dem Festland abgelegten Blumen, Kerzen und Kränze zum Gedenken an die Ermordeten. (Foto: Paal Sørensen@Wikimedia Commons, Lizenz CC by-sa 3.0)

Viele sind unzufrieden, teils sogar verärgert über das gestern vorgestellte psychologische Gutachten zum Massenmörder von Norwegen. Nach Auffassung der beiden Experten leidet er an einer paranoiden Schizophrenie, sowohl aktuell als auch zum Zeitpunkt seiner Taten. Deshalb sei er, wie ich bereits im Juli vermutete, als schuldunfähig einzustufen. Der Angeklagte selbst sei „gekränkt“ von dieser Einschätzung, wurde kolportiert. Schließlich hält er sich selbst ja nicht für psychisch krank, sondern für eines der „einflussreichsten Individuen dieser Zeit“. Diese maßlose Selbstüberhöhung passt genau ins Bild seiner Krankheit (und erinnert mich an die Hybris eines ehemaligen deutschen Spitzenpolitikers, der nach acht Monaten Ruhe just wieder Schlagzeilen macht).

Würde das Gericht in Oslo beim im April beginnenden Prozess diesem Gutachten folgen, könnte der Attentäter nicht zu einer Haftstrafe verurteilt werden. Stattdessen müsste er auf unbestimmte Zeit in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen und alle drei Jahre neu über seinen Verbleib entschieden werden. Viele Kommentatoren in Online-News-Portalen, Foren und Netzwerken halten das für eine zu milde Sühne, manche schreiben auch von einem „Freibrief“ für künftige Massenmörder. Man müsse ja nur den Gutachtern was vorspielen, sich für unzurechnungsfähig erklären lassen und käme dann ungestraft davon.

Mal davon abgesehen, dass eine (wahrscheinlich lebenslange) Unterbringung in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik keine wesentliche Komfortverbesserung gegenüber dem Aufenthalt in einem Gefängnis darstellt, wo er vermutlich aus Sicherheitsgründen in Einzelhaft gehalten werden und auch Mahlzeiten und Hofgang getrennt von den anderen Gefängnisinsassen absolvieren müsste: Ein Gericht ist zumindest in Norwegen und Deutschland nicht für die Befriedigung von Rachegelüsten zuständig. Und: Ja, auch Rechtsgutachter können sich irren. Deshalb können sich die Richter auf deren Beurteilung stützen, müssen es aber nicht. Sie können sich ein eigenes Bild vom Angeklagten machen und dann auf der Grundlage der Gesetze frei entscheiden.

Kein noch so hartes Urteil kann jedoch ein wirklicher Trost, eine echte Hilfe für die trauernden Angehörigen der Getöteten und die lebenslang traumatisierten und teils schwer verletzten Tatzeugen sein. Kein Todesurteil in den USA oder anderswo hat jemals ein Mordopfer wieder lebendig gemacht. Strafen dienen zumindest in unserem Rechtssystem primär der Prävention durch Abschreckung, der Läuterung und Resozialisierung des Täters, dem Schutz der Gesellschaft und der angemessenen Sühne für eine Tat. Das alttestamentarische Talionsprinzip „Auge um Auge“ wird bei uns aus guten Gründen schon lange nicht mehr angewendet. Wie sollte das auch im Fall eines Massenmörders umgesetzt werden?

Wenn nun das Gericht wegen Schuldunfähigkeit die Einweisung in eine geschlossene Psychiatrie anordnen würde, geschähe das aus der Logik, dass bei dieser Krankheit wegen fehlender Schuldeinsicht ohnehin keine Sühne möglich ist. Da paranoide Schizophrenie zwar behandel- aber nicht wirklich heilbar ist, könnte man auch nicht mit einer „Spezialprävention“ (einer positiven Veränderung des Bestraften während der Haftzeit) oder gar einer Resozialisierung rechnen, obwohl im norwegischen Strafvollzug gerade darauf besonderen Wert gelegt wird. Der Massenmörder bliebe potenziell gefährlich.

Der Schutz der Gesellschaft wäre immerhin durch das „Wegsperren“ gewährleistet und der Generalprävention (Abschreckung) meiner Ansicht nach ebenfalls Genüge getan. Oder können Sie sich vorstellen, dass ein Mensch nur deshalb zum Amokläufer oder Attentäter wird, weil er die lebenslange Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt als akzeptable mögliche Konsequenz ansieht?

Im umgekehrten Fall würde das übrigens erheblich anders aussehen: Sollte der Angeklagte nämlich für schuldfähig befunden und wegen mehrfachen Mordes schuldig gesprochen werden, könnte er zu maximal 21 Jahren Haft verurteilt werden, die er teilweise sogar in einer Art „offenem Vollzug“ verbringen könnte. Eine anschließende Sicherungsverwahrung wäre zwar auch in Norwegen möglich, wird aber nur äußerst selten angewandt. Alternativ könnte ihn die Staatsanwaltschaft wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ anklagen. Hier würde sich die maximale Haftdauer zwar auf 30 Jahre verlängern; eine weitere Sicherungsverwahrung aber ausgeschlossen und der Massenmörder im Jahr 2042 wieder frei. Dann wäre er gerade mal 63.

Vielleicht vermag es ja diese Aussicht, den Ärger von „Hardlinern“ wie Franz Josef Wagner über das psychologische Gutachten ein wenig zu dämpfen.