Dieser Tweet des Chefredakteurs der Koblenzer Rhein-Zeitung hat mich heute Morgen stutzig gemacht:
Ärgert sich Lindner hier zu Recht? Wäre das Weglassen von „mutmaßlich“ nicht eine unzulässige Vorverurteilung, eine Missachtung der Unschuldsvermutung gewesen? Tatsache ist, dass zahlreiche Medien in den vergangenen Tagen vom „mutmaßlichen Attentäter“ schrieben und sprachen, wenn auch nicht alle. Zumindest für Deutschland darf dazu der Pressekodex, dem sich Verleger und Journalisten freiwillig unterwerfen, als Maßstab herangezogen werden. Unter Ziffer 13 steht dort:
Die Berichterstattung über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren dient der sorgfältigen Unterrichtung der Öffentlichkeit über Straftaten und andere Rechtsverletzungen, deren Verfolgung und richterliche Bewertung. Sie darf dabei nicht vorverurteilen. Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn sie ein Geständnis abgelegt hat und zudem Beweise gegen sie vorliegen oder wenn sie die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat. In der Sprache der Berichterstattung ist die Presse nicht an juristische Begrifflichkeiten gebunden, die für den Leser unerheblich sind.
Damit scheint die Sache klar zu sein: Der Mann hat zumindest einen großen Teil der Taten unter den Augen einer (wenn auch auf die Insel Utøya beschränkten) Öffentlichkeit begangen und inzwischen eine Art Geständnis abgelegt, also kann man das „mutmaßlich“ weglassen. Für schuldig hält er sich jedoch dennoch nicht. Die gezielte Exekution von Kindern und Jugendlichen sei „grausam, aber notwendig“ gewesen. Und spätestens hier wird’s kompliziert und lässt in meinem Hinterkopf ein Alarmglöckchen klingeln: Müssen wir nicht einen anderen Aspekt bedenken und ein viel größeres Fass aufmachen?
Der deutsche Presserat hat nämlich in seinem Kodex auch ein Auge auf die Nennung von Kranken und Krankheiten jeder Art in der Berichterstattung sowie auf mögliche Einschränkungen der Schuldfähigkeit eines Täters geworfen. Unter Ziffer 8 (Persönlichkeitsrechte) heißt es etwa:
Die Nennung des vollständigen Namens und/oder die Abbildung von Tatverdächtigen, die eines Kapitalverbrechens beschuldigt werden, ist ausnahmsweise dann gerechtfertigt, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liegt und Haftbefehl beantragt ist oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen wird.
Soweit scheinen mir die zahlreichen vollen Namensnennungen und Abbildungen des Mannes in Ordnung zu gehen. Aber direkt danach gibt es noch diesen Satz:
Liegen Anhaltspunkte für eine mögliche Schuldunfähigkeit eines Täters oder Tatverdächtigen vor, sollen Namensnennung und Abbildung unterbleiben.
Meine These dazu: Wenn jemand einen Massenmord zugibt, sich aber als „unschuldig“ bezeichnet und das mit wirren Worten und kruden Pamphleten begründet, dann gibt es definitiv starke Anhaltspunkte für eine psychische Störung und damit für eine eventuelle Einschränkung der Schuldfähigkeit. Die genaue Klärung obliegt natürlich der norwegischen Justiz und den von ihr beauftragten Gutachtern. Ich halte es – wie schon vor zwei Tagen geschrieben – sogar für sehr wahrscheinlich, dass der Mann lebenslang in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen wird, wogegen „Spiegel“-Justizexpertin Gisela Friedrichsen auch eine volle Schuldfähigkeit nicht ausschließen mag.
Diese Beurteilung darf aber nicht von den Medien und ihren Vermutungen im Vorfeld eines Prozesses abhängen – mit einer Ausnahme: Wenn manche Journalisten schon selbst über eine mögliche „Geisteskrankheit“ spekulieren, dann müssten sie eigentlich auch die Konsequenz daraus ziehen und nach dem Pressekodex sofort auf die Veröffentlichung von Name und Bildern verzichten.
Das wäre zwar nicht im Sinne des Attentäters, der sich offenbar keinen Schutz seiner Persönlichkeitsrechte, sondern eine möglichst große Bühne für seine Ansichten und „Heldentaten“ wünscht, aber der Sache angemessen. Viel zu umfangreich wird meines Erachtens derzeit in Foren, Blogs und Kommentaren über seine vermeintlichen politischen und religiösen Überzeugungen, seine „Vorbilder“ und die möglichen Implikationen aus den Terroranschlägen diskutiert – ein wundervoller Nährboden für Legendenbildungen, Scharfmacher und Nachahmungstäter.
Natürlich bliebe auch bei peinlicher Beachtung dieses Pressekodexes ein massives Problem: Er gilt nur für Deutschland (auch wenn andere Länder ähnliche Vereinbarungen haben) und selbst hier nicht für alle Medien. Prinzipiell gäbe es also einen Wettbewerbsnachteil für die „Braven“ beim weltweiten Rennen um die sensationellste und gewinnbringendste Berichterstattung. Dass es aber langfristig nicht unbedingt lohnenswert ist, sich am untersten Sumpf der Presselandschaft und ihrer Moorleichen zu orientieren, hat jüngst erst das Aus für das britische Sonntags-Skandalblatt „News of the Word“ gezeigt.
Update 29.11.: Heute bestätigte die Staatsanwaltschaft in Oslo, dass zwei Rechtspsychiater den Attentäter für unzurechnungsfähig erklärt haben. Das ist zwar für das Gericht nicht bindend, aber durchaus wegweisend. Sollten die Richter dem Gutachten folgen, wäre er nicht schuldfähig und würde nicht ins Gefängnis, sondern in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen. Die aktuelle Entwicklung hindert deutsche Medien aber – ungeachtet des Pressekodexes – erwartungsgemäß nicht daran, weiterhin mit dem Namen und Bild des Mannes zu berichten.
Wundervoller Titel, auch wenn natürlich die Übersetzung des Titels, auf den er anspielt, ganz grausig danebengegangen ist. Aber das ist eine andere Frage.
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