„Stuttgart 21“ steht inzwischen nicht nur für ein riesiges, teures Bahnhofsprojekt, es ist ein Synonym geworden für eine nationale, themenübergreifende Auseinandersetzung ohne wirklich klare Fronten und Positionen. Denn die Projektgegner sind nicht notwendigerweise technik- und fortschrittsfeindliche Esoteriker oder Alt-68er und auch die Befürworter plädieren laut Spiegel-Umfrage überwiegend für eine Volksabstimmung über das Projekt. Parteipräferenzen spielen bei der Zuordnung von Gegnern und Befürwortern ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle, genauso wenig das Alter.
Unscharfe Ziele also auf beiden Seiten für den Bauherrn Deutsche Bahn, die Planer, Politiker und Journalisten. Da scheint es verführerisch zu sein, die verwirrende Gemengelage durch Prototypisierung von einzelnen Gruppen ein wenig zu vereinfachen. In diese Falle ist bereits der baden-württembergische Ministerpräsident Mappus mit seiner Klage über „Berufsdemonstranten“ getappt, der Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros, Dirk Kurbjuwelt, machte es ihm jetzt mit der Erfindung* der Chimäre des „Wutbürgers“ nach.
In seinem Essay in der aktuellen Ausgabe Nr. 41 des Hamburger Magazins schreibt Kurbjuweit unter anderem über den „Wutbürger“:
Er bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. … Bei weitem nicht alle Bürger sind Wutbürger. Aber weil die sich so laut empören, prägen sie das Gesicht der Gesellschaft, prägen sie den Geist der Zeit. Und ihre Zahl steigt. …Die Wutbürger sind zu einem großen Teil ältere Menschen, und wer alt ist, denkt wenig an die Zukunft. Ihm bleiben noch zehn oder zwanzig Jahre, die will er angenehm verbringen, was verständlich ist. Der Bau des Bahnhofs vergällt ihm das Leben, von dem neuen Bahnhof selbst wird er nicht mehr viel haben.
Da versammeln sich also etwa alle zwei Tage zehntausende Demonstranten in Stuttgart und die „Wutbürger“ unter ihnen sollen die prägende, die lauteste Kraft unter ihnen sein. Darüber können die Stuttgarter „Parkschützer“ vermutlich laut lachen, denn ihre Gallionsfiguren sind zum Beispiel der Schauspieler Walter Sittler (Jahrgang 1952) oder der 37jährige Matthias von Herrmann. Dazu kommen zahlreiche Unternehmer, Studenten und – wie beim unrühmlichen Polizeieinsatz am 30. September zu sehen war – auch viele Schüler. Denen nur eine Lebenserwartung von zehn oder 20 Jahren zu unterstellen, wäre wohl sehr dreist.
Demonstranten gegen „Stuttgart 21“: In zehn bis 20 Jahren seid Ihr tot! Glaubt jedenfalls Dirk Kurbjuweit. (Foto: Mussklprozz@Wikimedia Commons, Lizenz: CC-by-sa 3.0)
Selbstverständlich gibt es unter den Demonstranten auch zunehmend ältere Bürger, so wie es in der gesamten Gesellschaft immer mehr davon gibt. Aber denken sie tatsächlich „wenig an die Zukunft“? In Interviews – etwa mit älteren, Porsche-fahrenden, Ex-CDU-wählenden Unternehmerinnen – hört man eher die Motivation, dass den Kindern und Enkeln ökologische und finanzielle Katastrophen erspart werden sollten – alles nur vorgeschoben? Und sind nicht auch unter den Protagonisten und Befürwortern des Projekts auffallend viele Senioren?
Kurbjuweit sitzt in Berlin, hat vermutlich wenig Ahnung von den Befindlichkeiten in Baden-Württemberg und speziell Stuttgart, glaubt aber ärgerlicherweise, den Protest gegen „Stuttgart 21“ gleichsetzen zu können mit dem an vielen Orten vorhandenen Widerstand gegen Kraftwerke, Hochspannungsleitungen, Windräder und Straßen:
Deutschland wird erstarren, wenn sich allerorten die Wutbürger durchsetzen. Die nächste Moderne wird von chinesischem Tempo und chinesischen Dimensionen bestimmt werden. Deutschland muss und soll das nicht alles mitmachen, aber es muss und sollte Anschluss halten und nicht wütend das Überkommene verteidigen.
Welche Binsenweisheit: Natürlich kann eine Diktatur wie in China auch Mammutprojekte problemlos und schnell mit Staatsgewalt gegen die Bevölkerung durchsetzen. Überflutete Dörfer wegen eines Riesen-Staudamms? Schwamm drüber. Vergiftetes Wasser und verseuchte Milch durch Chemieanlagen? Egal, wir haben ja genug Bevölkerung, dass ein ein paar Millionen Tote nicht auffallen. Und was sollen wir in Deutschland daraus lernen? Ein bisschen Diktatur für den Fortschritt? Alle Emotionen verbieten, wenn vermeintlich „bahnbrechende“ (sic!) Projekte durchzupauken sind? Alles glauben und hinnehmen, was uns gierige Unternehmer und machtgeile Politiker vorsetzen?
Nur eine Doppelseite vor Kurbjuweits Essay liefert der Spiegel im Beitrag „Ende der Mogelei“ die Antwort: Nein, wir können ihnen nicht glauben. Die Kostenplanung für Stuttgart 21 wurde mehrfach und vorsätzlich schöngerechnet; die noch im April 2009 genannten 3 Milliarden Euro für den Bahnhofsumbau wurden schon im selben Jahr zu 4,9 Milliarden. Die inzwischen offiziell genannte Summe von knapp 4,1 Milliarden resultiere aus Streichungen, die nur auf dem Papier Bestand hätten. Das Umweltbundesamt spricht sogar von insgesamt rund 11 Milliarden Baukosten für „Stuttgart 21“ und die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm.
Ziemlich unklar und umstritten sind auch die Folgen der unterirdischen Bauarbeiten für das Grundwasser und die Thermalquellen der Stadt, ebenso der Einfluss der Anhydrit-Schichten auf die Tunnelröhren. Durch das Aufquellen solcher Schichten gab es bereits im nicht weit entfernten Engelbergtunnel bei Leonberg diverse Bauschäden. Immerhin weiß Kurbjuweit, dass zumindest in Sachen Transparenz und Information in Stuttgart Fehler gemacht wurden:
Es stimmt, dass da vieles versäumt wurde. Die Integrationspolitik hatte große Mängel, die Kommunikation zu Stuttgart 21 ist ein Desaster.
Dazu gehört wohl auch, dass die neuen Sprecher des Projekts zumindest altersmäßig genau dem Kurbjuweit’schen Kompositum „Wutbürger“ entsprechen: Wolfgang Dietrich ist 62, Udo Andriof gar 68. Die beiden werden nach Kurbjuweits Rechnung kaum noch mit den finanziellen und ökologischen Folgen von „Stuttgart 21“ zu tun haben. Immerhin sind es bis zur Fertigstellung noch gut neun Jahre; wer weiß, ob die Herren dann noch leben. Ich würde sie und Ihresgleichen jetzt einfach mal „Arche Noah„-Bürger nennen, das sind jene mit dem schönen Lebensmotto: „Nach mir die Sintflut“.
* Der Begriff „Wutbürger“ ist keine neue Erfindung von Dirk Kurbjuweit, den gibt’s schon etwas länger, die rechtspopulistische Wählervereinigung „Bürger in Wut“ sogar schon seit rund sechs Jahren. Ich nehme aber nicht an, dass sich der Spiegel-Redakteur bei seiner Wortwahl darauf bezogen hat.
Update 17.12.: Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ in Wiesbaden hat heute leider „Wutbürger“ zum „Wort des Jahres 2010“ gekürt, weil es für die Empörung in der Bevölkerung darüber stehe, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen würden. Man hätte es wohl besser „Unwort des Jahres“ nennen sollen.
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