Ein leichtes Jetlag-Gefühl, wie in Watte gepackt, ein paar nette Momente und viel Vergessenswertes im lückenhaften Gedächtnis, einige neue Erkenntnisse und ein durchgebrannter LED-Spot: Die kurze und höchst subjektive Bilanz meiner durchwachten „Oscar“-Nacht bis zum frühen Montagmorgen um kurz nach halb Sechs.
Was hängen blieb:
- Moderator Billy Crystal und seine launigen Umschreibungen des Veranstaltungsorts – eigentlich bekannt als „Kodak Theatre“ in Los Angeles. Da aber die Eastman Kodak Company pleite ist und als namensgebender Sponsor ausfiel, nannte Crystal den Ort mal „Chapter 11 Theatre“ (in Anspielung auf den US-Gläubigerschutz für insolvente Unternehmen) oder „the I don’t know, you name it Theatre“. Der Name „Kodak“ fiel bei ihm kein einziges Mal. Völlig korrekt, denn ab sofort heißt es offiziell „Hollywood & Highland Center“.
- Die immer wieder beunruhigend Bulimie-verdächtige Figur von Angelina Jolie. Das Dickste an ihr sind die Lippen. Tausende Twitter-Nutzer boten während ihres Auftritts spontan medizinische Hilfe, Ernährungsberatung oder zumindest eine warme Mahlzeit an. Demonstrativ ließ Jolie bei der Vorstellung der Drehbuch-Nominierten mit eleganter Ausstell-Pose eins ihrer sehr schlanken Beine aus dem schwarzen, langen Kleid ragen – was einen der männlichen Preisträger zu einer spontanen Nachahmung veranlasste. Lustige Idee, aber in langen Hosen nicht ganz so wirkungsvoll.
- Billy Crystals respektlose Seitenhiebe auf die „Academy of Motion Pictures, Arts and Science“, schon zum neunten Mal sein Auftraggeber für die Moderation der „Oscar“-Nacht. Nach der rezeptpflichtigen Langweiler-Rede des Präsidenten Tom Sherak dankte Crystal ihm dafür, das Publikum zu begeisterter Raserei („frenzy“) getrieben zu haben und bezeichnete Sherak als „Master of Excitement“. Solche Frechheiten erlaubt er sich jedes Mal und wird doch immer wieder mal gebucht – das zeugt von einer gewissen Souveränität und Klugheit der „Academy“-Leitung. Denn nichts ist so langweilig wie fortgesetzte, ironiefreie und bis ins Letzte durchgeplante Lobhudelei. So richtig unterhaltend sind doch nur die spontanen, gegen den Strich gebürsteten Ansprachen, Moderationen und Gefühlsausbrüche.
- Davon dürfte das Publikum des übertragenden US-Senders ABC nicht alles mitbekommen haben. In der Regel werden nämlich dort Live-Veranstaltungen mit ein paar Sekunden Zeitverzögerung ausgestrahlt. Und wenn ein Preisträger irgendwas mit „fucking“ erzählt (wie einmal in der Nacht geschehen und zumindest bei Pro7 zu hören), kann dieses schlimme Wort von der Regie weg gepiepst werden, bevor es die Ohren des sensiblen US-Zuschauers erreicht.
- Sandra Bullock (47) und Billy Crystal (wird in zwei Wochen 64) verblüfften (neben einigen anderen nicht mehr ganz jungen Stars) mit äußerst faltenarmen Gesichtszügen. Offenbar beherzigen beide das Iris-Berben-Schönheitsrezept und trinken sieben Liter Wasser pro Tag oder sie haben die gleiche Wellness-Farm besucht. Allerdings hätte man in diesem Fall vor der „Oscar“-Gala besser die Straffungs- und Fixiercreme komplett entfernen sollen – die Mimik wirkte doch sehr eingeschränkt und es gab ein paar seltsame Haut-Reflexionen im Scheinwerferlicht.
- Das genaue Gegenteil boten Nick Nolte (71), Max von Sydow (82) und Christopher Plummer (mit 82 der älteste „Oscar“-Gewinner aller Zeiten). Sie sahen bei der Gala absolut unverjüngt aus – Nolte schien sich sogar mit 50 durchwachten Nächten, mehreren Fässern Bourbon, einer Lkw-Ladung Zigaretten, einem Zug durch alle Bordelle des Mittleren Westens und Massen von ungesundem Fast Food akribisch auf die „Oscar“-Nacht vorbereitet zu haben. Wenn er sich damit vom Jugendlichkeitswahn Hollywoods distanzieren wollte, ist ihm das umfassend gelungen. Während die Damenwelt auf die immer gleiche Interviewerfrage „Was tragen Sie heute?“ irgend was mit „Gucci“ oder „Prada“ faselte, hätte Nolte sagen können: „Das Gesicht meines Opas“.
- „The Artist“-Hauptdarsteller und „Oscar“-Gewinner Jean Dujardin (für eine Hollywood-Karriere sollte er sich vielleicht „John Fromthegarden“ nennen, für’s deutsche Autorenkino meinetwegen „Hans Asbach“) sieht auch ohne Film-Make-Up und sogar in Farbe wie ein typischer „Beau“ der Stummfilm- und Schwarzweiß-Ära aus – darauf einen … ach, Sie wissen schon.
Insgesamt muss es doch eine recht unterhaltsame und heiße Veranstaltung gewesen sein, denn mitten in der Nacht freute sich einer meiner dimmbaren Lumixon-LED-Spots mit heftigem Flackern, massiven Rauchzeichen, beißendem Gestank und anschließendem Totalausfall ein Loch in den Bauch:
Es war der insgesamt vierte frühe Tod einer Lampe dieses Typs, sie wurde noch nicht mal zwei Jahre alt und schaffte statt garantierter 50.000 Brennstunden höchstens 5000 – von wegen „the best die young“. Kurz darauf gedachte das Auditorium in Los Angeles mit gefühlvoller Musikuntermalung den seit der letzten „Oscar“-Gala verstorbenen Filmschaffenden – gutes Timing.