Unter der Oberfläche der Online-Enyklopädie brodelt es seit Monaten; jetzt hat auch das Fachblatt für blanke Brüste und sonstige „nackte Tatsachen“ entdeckt, dass es in Wikipedia bzw. Wikimedia einen Streit um vermeintliche „Pfui“-Bilder gibt. In der deutschsprachigen Wikipedia war die Diskussion darüber, ob man entsprechende Artikel mit entblößten Geschlechtsteilen bebildern kann, schon lange virulent, kochte aber jüngst am 21. März richtig hoch, als der mit „exzellent“ ausgezeichnete Eintrag „Vulva“ Artikel des Tages war.
Ellenlange Diskussionen und Abstimmungen gingen der Entscheidung über das „Titelbild“ voraus, setzten sich am betroffenen Sonntag fort und rissen auch danach nicht ab. Kann man ahnungslosen Kindern, die mal kurz was bei Wikipedia nachgucken wollen, völlig unvorbereitet solche expliziten Abbildungen zumuten? Ist das nicht schon Pornografie? Hat Wikipedia eine moralische Verantwortung für das sittliche Empfinden seiner Benutzer? Oder sind solche Bilder unverzichtbarer Bestandteil der Information über den Gegenstand des Artikels und dürfen keiner Zensur zum Opfer fallen? Können 10jährige Kinder, die unbeaufsichtigt im Internet surfen, nicht ohnehin problemlos und ohne Altersbarriere harte Pornografie in allen Spielarten sehen? Solche und ähnliche Fragen wurden heiß diskutiert; die gegensätzlichen Positionen standen sich unversöhnlich gegenüber.
Die „Anti-Porno“-Bewegung greift jetzt auch nach Wikipedia. (Grafik: Piast@Wikimedia Commons)
In diesem Zusammenhang entdeckten einige bis dahin fachlich unbeleckte Wikipedia-Neulinge, dass es im Medienarchiv Wikimedia Commons noch weitaus heftigere Abbildungen in den Kategorien „Sexualität“ und „Nacktheit“ (vor allem in einigen Unterkatagorien) zu sehen gibt. Im April legte dann sogar der Wikipedia-Mitbegründer Larry Sanger noch eine Schippe drauf und schwärzte sein ehemaliges Projekt beim FBI an – wegen „Verbreitung von Kinderpornografie“. Konkret bezieht er sich auf zwei Kategorien in Wikimedia, die unter anderem künstlerische Darstellungen zeigen, wie sie häufig auch in Museen ausgestellt werden. Das muss man nicht toll finden, ist allerdings auch nicht verboten.
Vor allem in prüden und heuchlerischen Kreisen der USA öffnete Sangers Anklage aber natürlich alle Dämme: Wikipedia ist ein Werk des Teufels, das unsere Jugend verdirbt! Abschalten! Zensieren! Bloß keine Spenden mehr aus der Wirtschaft für Wikipedia!
Der Verweis auf „Kinderpornografie“ ist aber auch bei uns in Deutschland inzwischen ein Totschlagargument, bei dem der Stammtisch häufig ohne nähere Begutachtung wahlweise „Kopf ab!“ oder „Schwanz ab!“ ruft. Besonders laut sind dann die Stimmen der stark angegrauten oder haarlosen älteren Herren, die grade von einem längeren Pattaya-Urlaub zurückgekehrt sind, oder von Vertretern der katholischen Kirche, die aus eigenem Erleben eine gewisse Fachkenntnis mitbringen.
Diese heuchlerische Einstellung zeigte nun aber auch „Wikipedia-Godfather“ Jimmy Wales. In diversen Nacht- und Nebelaktionen löschte Wales zuerst zahlreiche vermeintlich anstößige Dateien, erhielt dafür heftige Kritik und entschuldigte sich am Wochenende für einige seiner Aktionen. Bis dahin war jedoch das Kind schon in den Brunnen gefallen. Wikipedia-Autoren wiesen darauf hin, dass Wales doch sein Geld mit leicht bekleideten Damen gemacht habe, dass ihm die europäische Kultur und der Umgang mit Nacktheit hier fremd sei, dass ihm seine bisherigen Sonderrechte in den verschiedenen Wikipedia-Projekten entzogen werden sollten und drohten mit Streik oder gar Rückzug aus dem Projekt.
Andererseits hatten sich schon einige Administratoren in vorauseilendem Gehorsam Wales‘ Löschaktion angeschlossen, so dass insgesamt wohl eine vierstellige Anzahl von Dateien im Nirwana verschwand; auch solche Bilder, die bis dahin in verschiedenen Wikipedia-Sprachversionen klaglos verwendet werden konnten.
Wikipedia-Gründer Jimmy „Jimbo“ Wales streitet sich mit Teilen seines Projekts. (Foto: Chrys@Wikimedia Commons)
Derzeit laufen bzw. liefen auf der Meta-Ebene mehrere Petitionen bzw. Abstimmungen, die sich gegen Wales richten; als Konsequenz hat er bereits auf einige seiner Founder-Sonderrechte verzichtet. Das klingt jetzt erst mal wie ein Sieg der Zensurgegner, aber es ist nur eine kleine Etappe auf dem Weg der endlosen Diskussionen über „sexuelle Inhalte“ in Wikipedia. Das Pendel kann auch wieder in die andere Richtung ausschlagen; vor allem nachdem sich die Boulevard-Presse (und stockkonservative Medien wie Fox News in den USA) der Sache angenommen haben und daraus Auflage und Quote generieren. Womöglich mit ein paar leicht verpixelten Beispielbildchen, die bei Lesern und Zuschauern diese seltsame Mischung aus Empörung und Faszination hervorrufen, ohne die solche populistische Heuchelei nicht funktionieren würde.