Stellen Sie sich mal vor, Ihr bevorzugtes Online-Nachrichtenportal oder Ihre Tageszeitung würde gut hundert Zeilen lang über ein neu eröffnetes Automobilwerk berichten – mit vielen Details, wundervoll recherchiert … und in keiner Zeile des Artikels wäre der Standort des Werks zu lesen. Unvorstellbar? Ja, weil’s um was konkret Vorstellbares aus der „Kohlenstoffwelt“ geht. Wenn traditionelle Verlagshäuser aber über ein „Irgendwas mit Internet“-Thema stolpern, dann ist so was Ähnliches durchaus vorstellbar.
Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) verbreitete in der Nacht zum Montag einen langen Korrespondentenbericht des Autors Jürgen Ruf über den streitbaren und knorrigen Gastronomie-Kritiker Wolfram Siebeck. Auszüge:
«Ich bin jetzt Blogger», sagt der 83-Jährige. … In den vergangenen Monaten hat Siebeck sein Leben neu geordnet. Zwar schreibt er noch immer vereinzelt für Zeitungen und Zeitschriften, so wie er dies seit mehr als 60 Jahren tut und sich damit einen Namen gemacht hat. Sein neuer Schwerpunkt ist aber das Internet. Dort hat er sich für seine kulinarischen Kolumnen eine eigene Seite zugelegt, kommuniziert direkt mit seinen Lesern. «Ich kann im Internet völlig frei schreiben», sagt Siebeck. «Kein Redakteur redet mir rein, kein Verleger muss vor verärgerten Anzeigenkunden zittern. Und ich muss nicht im Fluss des Mainstream schwimmen.»
Zahlreiche Online-Portale übernahmen am Montag den Text, heute (Dienstag) erschien er gedruckt in vielen Zeitungen und in den „E-Paper“-Ausgaben. Viele Veröffentlichungen hatten eines gemeinsam: Die Webadresse (URL) des Blogs, http://wo-isst-siebeck.de/ (Screenshot rechts), wurde kein einziges Mal erwähnt oder gar verlinkt. Offenbar gingen diverse Redaktionen davon aus, dass Zeitungsleser sich ohnehin nicht für dieses komische Internet interessieren, oder dass sie die Adresse notfalls auch via Google ‚rauskriegen könnten. Siebecks Blog gibt es immerhin schon seit Juli 2011; kann doch nicht so schwer sein, das zu finden, gell? Zeitungen sind ja schließlich nicht für den Service am Leser zuständig.
Die Schuld an dieser Missachtung der Kundschaft kann man übrigens nicht dpa anlasten: Auf Nachfrage bestätigte mir die Unternehmenszentrale, dass – wie üblich – auch unter diesem Korrespondentenbericht alle relevanten Daten und die URL des Blogs vermerkt waren. „dpa-Notizblock“ nennt sich das, ein Service der Agentur für die Redaktionen. Bei automatischen Übernahmen in Online-Portalen fällt der meist weg, bei manueller Bearbeitung wäre eine Redaktion aber durchaus in der Lage, die enthaltenen Infos im Text einzubauen oder als Anhang zu ergänzen.
Hat in diesem Fall leider – bis auf wenige Ausnahmen – so gut wie niemand getan. Kann halt nicht jeder so ein Herz für seine Leser haben wie dieser seltsame Siebeck. Der mag ja auch keine Zeitungsredakteure. Wieso bloß?
@ Wolfgang:
Ist ganz allgemein eine Feststellung, die ich auch schon vielfach machte: Das ganze Urheber- und Copyright-Zeugs ist einigen – oder besser gesagt sehr vielen – im Internet recht egal. Wenn du mal Internetforen udgl. liest: Wie viele da einfach Bilder aus dem Web ‚klauen‘ und ohne (c) Angabe (also sozusagen als ‚eigenes Werk‘) einfügen, da würde man gar nicht mehr fertig, das zu kontrollieren, geschweige denn dementsprechend zu sanktionieren.
@Johannes: Dieser Fall hat ja nichts mit Urheberrecht und Co. zu tun. Das Geschilderte ist völlig legal, pendelt aber irgendwo zwischen Ignoranz und Gedankenlosigkeit.
leicht offtopic: Der Kommentar von Johannes bestärkt das seit einer Weile in mir aufkeimende Gefühl, irgendwelche Dunkelmänner würden organisiert versuchen, bei arglosen Mitlesern im Internet den Eindruck zu erwecken, ganz normale Links seien praktisch kaum einen Millimeter entfernt von Schmarotzen, wenn nicht gar Diebstahl.
@17: Es täte mir leid, wenn dieser Eindruck durch meinem Beitrag entstehen würde. In diesem Fall geht es ja gerade darum, dass „normale“ Links das Gegenteil von „Schmarotzen“ oder gar „Diebstahl“ sind.
so what?
immer noch besser als „quelle: internet“
@puck: Stimmt. Ich vergass übrigens auch im Text bei „gedruckt in vielen Zeitungen“ den Hinweis „Quelle: Zeitungskiosk“ 😉