Wer den Wandel meistert, kann die „Demenz“ vergessen

Nachdem wir ziemlich sicher sein können, dass Manfred Spitzers „Digitale Demenz“ ein Popanz ist, was gibt es stattdessen? Eine „analoge Demenz“ bei Spitzer & Co.? Einen Generationen- und Kulturkampf zwischen abgehängten „Offlinern“ und digital vernetzten „Onlinern“? Oder geht’s in Wirklichkeit nur um den ganz normalen, ständigen Wandel der zum Leben und Überleben nötigen Fähigkeiten, den aber nicht jeder akzeptieren will?

Brockhaus’ Konversationslexikon 1901-1904
Teil des Bildungskanons Anfang des 20. Jahrhunderts: Das „Brockhaus‘ Konversations-Lexikon“, lebte zuletzt noch als „Enzyklopädie“ bis 2007 in limitierter Auflage. (Foto: Sommeregger@Wikimedia Commons, Lizenz: CC by-sa 3.0)

Akute Anflüge von Hirnleere kennt wohl jeder: Telefonnummer des Klempners verlegt – ausgerechnet beim Rohrbruch; der rätselhafte Gang in den Keller – (wegen was nochmal?); nach dem „clean install“ eines neuen Betriebssystems kein Passwort mehr im Kopf; die vergebliche Suche nach einer bestimmten Straße in der Nachbarstadt – obwohl Sie dort schon mehrmals waren; nach nur einem Jahr keine Ahnung mehr, wie Sie Ihren Sat-TV-Receiver dazu bringen können, neue Sender zu empfangen; das Verpassen der richtigen Autobahnabfahrt; das verzweifelte Durchkämmen der Wohnung nach dem verschwundenen Schlüsselbund.

Das alles ist in der Regel weder chronisch noch Zeichen einer Demenz, sondern Folge der manchmal etwas seltsamen Selektionsmethode des Hirns zwischen den Kriterien „wichtig“, „mal zwischendurch merken“ und „kannste vergessen“. Die können wir zwar teilweise beeinflussen (etwa durch stures Auswendiglernen, kreatives Basteln von Assoziationsketten oder Verknüpfen mit Emotionen) – das Allermeiste passiert aber ohne unser direktes Zutun, weil der unendliche Strom der durch unsere Sinne und Rezeptoren aufgenommenen Datenhäppchen nur automatisiert in den Griff zu bekommen ist.

Das Wertvolle von früher ist der „Müll“ von heute

Unbewusst verändert sich diese Speicher-Agenda ständig während unseres Lebens – wegen des eigenen Alters- und Erfahrungsfortschritts und wegen der Dynamik der Umwelt. Was vor 20 Jahren noch „wichtig“ war, kann inzwischen total irrelevant geworden sein (etwa die Cocktail-Preise in der Stammkneipe damals. Dafür wissen wir jetzt auf Anhieb, wo die Magentabletten im Badezimmer zu finden sind). Jungen Leuten (so ab Jahrgang 1980) wird heutzutage nachgesagt, sie hielten vieles für Lügen und Müll, was wir Älteren noch als relevantes Wissen ansehen. Manche ziehen sogar den Informationswert der ARD-„Tagesschau“ in Zweifel – potztausend!

Müssen wir deshalb aber gleich in Kulturpessimismus verfallen und den Untergang des Abendlandes befürchten? Ich gebe zu, dass ich das hin und wieder gedacht habe und auch teils noch denke (z. B.: „Privatfernsehen verblödet!“), obwohl es vermutlich grottenfalsch ist. Was uns nämlich in den 1960ern und 1970ern in der Schule und Ausbildung als „Wissen“, „Werte“ und Fähigkeiten vermittelt wurde (und teilweise auch heute noch den Schülern eingetrichtert wird), ging schon damals großteils am realen Bedarf vorbei und dürfte in diesem Jahrtausend fast komplett wertlos geworden sein.

Das Alter spielt fast keine Rolle

Die von Mathematiker und Philosophen Gunter Dueck so treffend als „Flachbildschirm-Rückseitenberater“ beschriebenen „Schema F“- und „Kästchendenker“-Bürosklaven waren zwar vielleicht mal Musterschüler, werden aber immer weniger gebraucht. Die Zeiten, in denen der ideale deutsche Staatsbürger alles geglaubt hat, was ihm vermeintliche Autoritäten oder die Obrigkeit vorsetzten, wo er beim Massenmorden, Verwalten von Konzentrationslagern, Volkszählen mit Hollerith-Maschinen, Ausspähen der Nachbarschaft und Verdrängen von Grausamkeiten eine unglaubliche Perfektion entwickelte, wo er nie gegen Unrecht aufbegehrte, die wünschen sich nur Dummköpfe zurück.

Manfred Spitzer ist so ungefähr in meiner Altersgruppe, dürfte also zumindest anfangs eine ähnliche „Bildung“ genossen haben. Aber das Alter (in Zahlen) spielt in dieser Diskussion eigentlich keine entscheidende Rolle – noch nicht mal unbedingt die Generation. Er und andere Computer-/Internet-Skeptiker kommen in der gleichen „digitalen“ Realität zu völlig anderen Schlüssen als zum Beispiel der noch ein paar Jahre ältere Dueck.

Ich neige eher dessen Ansichten und Prophezeiungen zu. Dueck sieht die Jugend mitnichten „durch elektronische Medien verdummt“, sondern im Gegenteil noch schwere infrastrukturelle und bildungskulturelle Mängel beim Einsatz und der Ausbreitung dieser von Spitzer verteufelten Medien und Maschinen – mit der Konsequenz, dass die wirtschaftliche und geistige Leistungsfähigkeit des Landes leidet.

Was wirklich zählt, sind nicht die Fakten

Die von Marketingexperten „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“ getauften Menschen gibt es wegen des schon lange andauernden Digitalzeitalters inzwischen in fast jeder Altersgruppe, konservative Maschinenstürmer und Verschwörungstheoretiker ebenfalls. Die Trennlinien sind fließend und weitgehend unabhängig von politischen Überzeugungen und Parteipräferenzen. Allenfalls die Sozialisation und die Fähigkeit zur flexiblen Reaktion auf sich schnell verändernde äußere Umstände spielen eine Rolle. Wissbegierigkeit, Toleranz, Weltoffenheit, Kommunikations- und Kritikfähigkeit sind ein paar der Eigenschaften, die den Lebensstil und den Umgang mit Medien aller Art positiv beeinflussen (wie heißen eigentlich die entsprechenden Unterrichtsfächer in der Schule?).

Der Bildungskanon von früher mit weitgehend unreflektierter Faktensammlung ist hier weitgehend irrelevant. Es spielt beispielsweise keine Rolle, ob Sie die Jahreszahlen für Beginn und Ende des 30jährigen Krieges im Kopf haben. Sie sollten aber unter anderem wissen – um entsprechende Medienberichte relativieren zu können -, dass die Wahrheit das erste Opfer eines Krieges ist. Es ist auch nicht sonderlich wichtig, den genauen Sitz der Belohnungs- und Glücks-Rezeptoren im Gehirn zu kennen. Sehr wichtig ist dagegen die Erkenntnis, dass jeglicher Konsum – im Übermaß genossen – zu einer Sucht werden kann.

Dabei ist es prinzipiell egal, ob es um Internet, Fernsehen, Computerspiele, Beifall, Ruhm, Rum, Zucker, Kokain, Nikotin oder Pornos geht. Jede dieser „Drogen“ ist geeignet, die individuelle Lebenstüchtigkeit inklusive der Sozialkontakte erheblich zu reduzieren und Phänomene auszulösen, die an Demenz erinnern. Glauben Sie das einfach mal jemandem, der diverse Nächte „Gran Turismo“ (Teile 1 bis 5) an der „Playstation“ durchgespielt oder mit qualmenden Zigaretten stundenlang an Blogbeiträgen geschrieben hat. Man vergisst jede Menge von dem anderen Zeug, das nichts mit dem zu tun hat, was man gerade exzessiv betreibt. Gut, wenn Sie wissen, wie Sie von dem Trip wieder ‚runterkommen.

Apologeten einer vergangenen Welt

Indizien für ein gehäuftes Vorkommen solcher zweifelhaften Lebensumstände, die die Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit beeinträchtigen, gibt es meines Erachtens im Wissenschafts- und Literaturbetrieb, wo sich Akademiker und die „Hüter der wahren Werte“ in ihren Elfenbeintürmen fern der wirklichen Welt ihren eigenen kleinen Kosmos basteln, die Scheuklappen enger schnallen, an ihrer Prominenz besaufen und die Frequenz von TV-Talkshow-Einladungen mit Bedeutung verwechseln.

Solche Autoren schreiben gerne Bücher für Menschen, die sich für das „Bildungsbürgertum“ und Talkshows für Informationssendungen halten, gedruckte Bücher kaufen und sie damit an die Spitze von Bestsellerlisten in gedruckten Magazinen und Wochenzeitungen hieven. Sie glauben offenbar noch an eine Welt, in der fest angestellte Vollzeitkräfte von der Ausbildung bis zur Rente im selben Betrieb bleiben, die immer gleichen Handgriffe und Denkvorgänge ausführen und vom Lohn problemlos eine vierköpfige Familie ernähren können.

Wenn sie dabei ignorieren oder vergessen, dass ein anderes Leben da draußen existiert – mit hoch flexiblen und niedrig bezahlten Tagelöhnern, mit Netzaktivisten, kritischen Konsumenten und Wählern, vernetzten Aktionsbündnissen, „digitalen“ Genies, Hobby-Publizisten und vielen jungen Leuten, denen solche Akademiker und ihre gläubigen Jünger piepegal sind -, wenn diese ewig Gestrigen immer noch die Paradigmen für ein Bildungssystem liefern, das Kinder für eine Welt vorbereitet, die es so nicht mehr gibt, dann spricht das durchaus für eine Art von Demenz. Und unter der leiden wir letztendlich alle.

Mehr zum Thema:

Dueck vs. Spitzer: Digitale Potenz gegen Demenz (bei „G! gutjahrs blog“)

Digitale Potenz: Ein Überspitzer gegen den Über-Spitzer (bei „Daily Dueck“)

Zwischenbilanz zu Spitzers „Digitale Demenz“ (Martin Lindner bei CARTA)

Ein Gedanke zu „Wer den Wandel meistert, kann die „Demenz“ vergessen

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