Warum Horror-Storys über GEZ und Co. so bequem sind (Update)

„Eigenverantwortung“ scheint für manche Menschen ein Fremdwort zu sein. Für sie sind immer andere am eigenen „Unglück“ oder „Schicksal“ schuld – häufig solch teuflische Monster wie GEZ, GEMA, SPD, DPD, ARD, ARAL, Hartz IV, VGH oder Finanzamt. Diese Weltsicht wird regelmäßig untermauert mit unbelegten Schauergeschichten aus dem persönlichen Umfeld oder von Hörensagen – Hinweise auf Fakten stören da nur und werden entweder ignoriert oder der Hinweisgeber als Kollaborateur und Profiteur des „Schweinesystems“ diskreditiert.

GEZ-Gebäude
Die GEZ-Verwaltung in Köln – eines der Ziele des Volkszorns. (Foto: GEZ.de)

Aktuelles Beispiel: Eine nicht näher bezeichnete Kindertagesstätte in einer nicht genannten Stadt  – möglicherweise im Raum Bochum – müsse jetzt nach dem Besuch eines „GEZ-Mitarbeiters“ rückwirkend für zehn Jahre rund 4000 Euro Rundfunkgebühren nachzahlen. So wird es derzeit in einem 50mal geteilten und 69mal „geplusten“ Google+-Beitrag und auf einigen Webseiten behauptet. Belege dafür gibt’s nicht. Danach soll die Kita keinen Antrag auf Gebührenbefreiung gestellt, aber dennoch eine ungenannte Zahl von Radio- oder TV-Geräte betrieben haben (so genau wird das nicht erzählt), was auf Nachfrage des Kontrolleurs auch zugegeben worden sei. Eine rückwirkende Gebührenbefreiung ist aber – und das stimmt nun wirklich – im Gegensatz zur Nachzahlung nicht möglich.

Dieser (erfundene?) Fall löste bei der konditionierten Klientel die zu erwartende Pawlowsche Reflexkette aus: Prompte und helle Empörung ohne Nachfrage, ungeprüfte Weiterverbreitung und stellenweise sogar die verkappte Aufforderung zur Gewalt gegen die „GEZ-Schnüffler“. Ein Kommentator schrieb bei Google+ gar:

Die GEZ-Affen, die solche Methoden anwenden, gehören auf der Straße totgeschlagen und als Warnung für ihre Kollegen liegengelassen, bis sich die Krähen satt gefressen haben.

Passt ja alles wundervoll ins Weltbild: „Der Staat und seine Lakaien schröpfen die Ärmsten der Armen (Kinder noch dazu!), um sich die Taschen vollzustopfen; und die Medien berichten nicht darüber, weil sie selbst zu den Profiteuren gehören – alles Schweine und Verbrecher!“

Drei Jahre sind das Maximum

Eher schüchtern nehmen sich dagegen vereinzelte Hinweise auf Unstimmigkeiten aus; zum Beispiel, dass die Gebühreneinzugszentrale keine Außendienstmitarbeiter beschäftigt, sondern dass es die Beauftragten der jeweiligen Landesrundfunkanstalt sind, die an Haus- und Kindertagesstättentüren klingeln. Oder dass es keine automatische Gebührenbefreiung gibt – schon immer und ausführlich publiziert.

Oder dass ein § 4, Abs. 4, des aktuellen Rundfunkgebührenstaatsvertrags existiert, in dem eben nicht steht, dass sich die Nachzahlung der GEZ-Gebühren auch auf einen Zeitraum von zehn Jahren erstrecken kann, sondern dass es eine Verjährung der Forderungen gibt, die sich nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die „regelmäßige Verjährung“ richtet. Dort finden Sie in § 195 eine Frist von drei Jahren und in § 199 unter anderem diesen Passus:

Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem … der Anspruch entstanden ist.

Davon ausgehend muss man also mit maximal 36 Monaten Nachzahlung rechnen; auf 4000 Euro summiert sich das wohl keinesfalls. Verweise auf ein Urteil des VGH München aus dem Jahr 1996, nach dem es eine solche zeitliche Deckelung bei Rundfunkgebühren nicht geben soll, sind dabei sinnlos. Es bezieht sich auf eine frühere Form des Staatsvertrages und auch noch auf den Fall eines vorsätzlichen „Schwarzsehers“, hat also nichts mit einer gemeinnützigen und deshalb potenziell gebührenbefreiten Kindertagesstätte zu tun.

Gemeinnützig oder nicht?

Das mit der „Gemeinnützigkeit“ ist in diesem Fall wichtig, denn der Paritätische Wohlfahrtsverband weist in einer ellenlangen Broschüre (pdf-Datei) unter anderem darauf hin, dass Kindertagesstätten durchaus GEZ-anmeldepflichtig sind und nur, wenn sie als gemeinnützige Einrichtung anerkannt sind, auf Antrag von der Gebührenpflicht befreit werden.

Mal angenommen, diesen Kita-Fall gäbe es tatsächlich. Was wäre das für ein Träger, Leiter oder eine Leiterin, der oder die ihren grundlegenden Papier- und Behördenkram nicht in den Griff bekommt? Nicht weiß, welche Vorschriften und bürokratischen Fallstricke es beim Betrieb einer Kita gibt (und es sind unzählige, die alle massiv von der eigentlichen Arbeit mit Kindern abhalten können)? Einem Gebührenbeauftragten erzählt, dass die Kita von Gebühren befreit sei, aber in Wahrheit keinen entsprechenden Antrag gestellt hat? Ihn dann noch unnötigerweise ins Gebäude lässt und ihm freimütig erzählt, dass hier schon seit zehn Jahren Radios und Fernseher dudeln? Und zum (schlechten) Schluss nicht mal in der Lage ist, das Problem auf dem kurzen Dienstweg und bestenfalls einvernehmlich mit der GEZ-Zentrale bzw. der zuständigen Landesrundfunkanstalt zu klären (doch, das funktioniert in vielen Fällen)?

Sorry, Beruf verfehlt.

Die potenzielle Überforderung

Jeder von uns muss sich schon privat regelmäßig mit einer Vielzahl von Formularen, Behörden, Gesetzen und Vorschriften herumschlagen (der GEZ-Kram ist da nur ein Mini-Puzzleteil), dazu kommt die ständige Abwehr von Abzockversuchen diverser Geschäftemacher und Betrüger – der anstrengende Alltag in einer Demokratie mit Marktwirtschaft, die Millionen von Entscheidungen von uns verlangt. Wer dann noch selbst ein Unternehmen, eine Institution, einen Verein oder Ähnliches gründet und leitet, kriegt mindestens das Doppelte an Problemen oben drauf gepackt.

Das überfordert potenziell so ziemlich alle – wir sind schließlich keine Robotor, sondern Menschen mit Fehlern. Die Guten werden mit der Mehrzahl davon fertig und überleben, die andern nicht. Es sind vor allem jene, die von Klein auf daran gewöhnt wurden, dass andere ihnen das Denken und Handeln abnehmen – seien es die Eltern oder der Staat. „Eigenverantwortung“ bleibt ihnen häufig lebenslang ein Fremdwort – viel bequemer ist es doch, die Schuld am eigenen Ungemach einem diffusen Machtgebilde zuzuweisen. An einem selbst kann’s ja prinzipiell nicht liegen, dass die Konsumansprüche das Einkommen weit übersteigen oder dass mal wieder eine Frist zur Einreichung eines Antrags oder der Zahlung einer Rate verpennt wurde.

Der „Dunning-Kruger-Effekt“

Häufig kommt hinzu, dass die eigenen (überzogenen und unrealistischen) Ansprüche und Vorstellungen zum Maßstab für alle oder als Grund für eine Zahlungsverweigerung stilisiert werden. Vernünftige Kommunikation oder gar Verständigung ist auf dieser Basis natürlich nicht möglich. Dass es außerhalb der eigenen, Scheuklappen-beschränkten kleinen Welt noch eine andere, größere geben könnte, erscheint unvorstellbar – man kennt diese kognitive Verzerrung als „Dunning-Kruger-Effekt“.

Selbstverständlich ist niemand davor gefeit, schuldlos Liebe, Gesundheit, Geld, Wohnung, Arbeit und Reputation zu verlieren. Beispiele dieses allgemeinen Lebensrisikos und der Kehrseite unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems gibt es massenhaft – irgendwie waren oder werden wir alle mal „Opfer der Umstände“. Wer daraus aber schließt, unter Missachtung der lästigen Realität für immer und ewig die komplette Verantwortung für die eigene Situation abzuwälzen, darüber lang und breit über alle möglichen Kanäle zu lamentieren und finstere Mächte zu beschuldigen, der wird scheitern – immer wieder.

(Disclaimer: Ich verdanke seit einigen Jahren den Großteil meiner Einnahmen der Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems und damit auch der GEZ, war allerdings den weit überwiegenden Teil meiner Medienlaufbahn für private Verlage und Sender tätig)

Update 13.4.: Heute bekam ich auf eine entsprechende Nachfrage bei der GEZ-Presse von Willi Rees von den Abteilung „Zentrale Aufgaben“ folgende Information:

Dieser konkrete Fall war uns bisher nicht bekannt. Das liegt u.a. daran, dass wir wissen müssten, welche Kindestagesstätte konkret betroffen ist (vollständige Anschrift). Darüber hinaus sind wir bei derartigen Fällen – wie man umgangssprachlich sagt – ‚aussen vor‘, da hier der Beauftragtendienst der zuständigen Landesrundfunkanstalt involviert ist. Derartige Vorgänge werden alleine von den Rundfunkanstalten bearbeitet.

Grundsätzlich möglich wäre es durchaus, dass es zu einer rückwirkenden Anmeldung wie die beschriebene kommt. Die gesetzlichen Bestimmungen des Rundfunkgebührenstaatsvertrags besagen nun einmal, dass Rundfunkgeräte ab dem Beginn des Bereithaltens zum Empfang anzumelden sind und Befreiungen erst zum Beginn des Monats erteilt werden dürfen, der auf den Monat folgt, in dem uns der Antrag erreicht hat. Das sind nun einmal die Regelungen, die der Gesetzgeber festgelegt hat und daran müssen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GEZ halten. Dass dies oft zu Unverständnis führt, ist zwangsläufig und führt selbst bei Personen, bei denen eigentlich ein gewisses Verständnis für rechtliche Vorschriften erwartet werden kann, zu teilweise massiven Reaktionen.

Da laut den verbreiteten Gerüchten (siehe die Kommentare unter diesem Beitrag) die besagte Kindertagesstätte wohl im Sendegebiet des WDR liegen soll, habe ich nun dessen Pressestelle um Aufklärung gebeten.

Update 23.4.: Nachdem ich auch vom WDR aus Datenschutzgründen keine konkrete Auskunft erhalten habe, bin ich dem Thema „GEZ-Verjährung“ nun etwas grundsätzlicher und mit real existierenden Fällen auf den Leib gerückt.

Update 6.6.: Nach rund acht Wochen gab’s nun auch eine schriftliche Stellungnahme der WDR-Presseabteilung – zu finden in einem Update zu diesem Blogbeitrag.