Kultur und Kirschen brauchen ihren Wert

Gibt es immaterielles, „geistiges Eigentum“, dessen Gebrauch wie jedes andere materielle Eigentum laut Grundgesetz, Artikel 14, „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll“? Stehen dem nicht das Urheberrecht und die davon abgeleiteten Nutzungsrechte entgegen? Wie und wovon sollen schöpferisch tätige Menschen leben? Darauf lässt sich im Wesentlichen die aktuell hitzige Diskussion über „Raubkopierer“, Verwertungsgesellschaften im Digital- und Internet-Zeitalter, YouTube, Spotify & Co. destillieren. Es geht um Grundsätzliches, nicht um spektakuläre Einzelfälle, die ohnehin selten als exemplarische Beispiele taugen. Möglicherweise hilft dabei eine kleine Abstraktion mit einem Ausflug in die Botanik.

Kirschen
Die Früchte eines Kirschbaums – gibt’s jedes Jahr neu. (nicht urheberrechtlich geschütztes Foto aus Wikimedia Commons, gemeinfrei)

Seit Juli 1975 gibt es in Deutschland den Begriff „Mundraub“ nicht mehr im Strafrecht. Bis dahin war es die „Entwendung oder Unterschlagung von Nahrungs- oder Genussmitteln oder von anderen Gegenständen des hauswirtschaftlichen Gebrauchs in geringer Menge oder von unbedeutendem Wert zum alsbaldigen Verbrauch“. Man ging davon aus, dass der angerichtete Schaden für den Eigentümer gering bis vernachlässigbar sei – zum Beispiel, wenn jemand von einem Baum ein paar Kirschen pflückte und sie sofort aß. Auf Antrag ist „der Diebstahl und die Unterschlagung geringwertiger Sachen“ nach § 248a des Strafgesetzbuches auch heute noch strafbar – in der Regel gibt es aber kein öffentliches Interesse an der Verfolgung.

Wer also eine Musik-CD aus dem Elektronik-Discounter klaut und sich dabei erwischen lässt, wird nicht automatisch bestraft, sondern nur, wenn’s der Ladenbesitzer anzeigt. Dann allerdings ist die Rechtslage klar: Es handelt sich um Diebstahl. Inzwischen sind aber dank Internet und Filesharing die Daten von solchen CDs, DVDs und Blu-rays meist auch „immateriell“ (ohne die Datenträger) digital und weltweit verfügbar. Dadurch sind verlustfreie 1:1-Kopien möglich, ohne das Ursprungsprodukt zu beschädigen oder gar zu entwenden. Eine „Raubkopie“ im Sinne des Wortes gibt es damit nicht, weil ja nur etwas kopiert, aber nicht geraubt wird.

Die Büchse der Pandora

Meistens fällt das den Urhebern der Daten nicht mal auf, so lange die Kopien nur in kleinem Maßstab und für den jeweiligen Privatgebrauch zirkulieren. Vielleicht profitieren sie sogar unwissentlich davon, kann doch eine größere Verbreitung ihrer Werke durchaus einen Werbeeffekt haben und die Verkäufe fördern. Komplett anders ist jedoch die Situation, wenn Musik, Filme, Fotos, Software, Designideen etc. im großen Stil ohne entsprechende Nutzungsrechte kopiert, gestreamt und öffentlich (gegen Entgelt oder werbefinanziert) zum Download angeboten werden. Dann wurde zwar physisch immer noch nichts entwendet, es entsteht aber normalerweise ein Schaden für den Urheber, weil diese Verwertung sein eigenes Geschäftsmodell angreift und er dennoch nicht von ihr profitiert.

Juristisch sind derzeit fast alle ungenehmigten Kopien Urheberrechtsverletzungen, unabhängig vom Umfang oder tatsächlich angerichteten Schaden. Ausnahme: „Privatkopien“, die allerdings von einer rechtmäßig erworbenen Quelldatei gezogen werden müssen und nicht veröffentlicht, weiterverbreitet oder kommerziell verwertet werden dürfen. Diese kleine Einschränkung des Urheberrechts geht vielen nicht weit genug; sie würden gerne alle Kopien für den Eigengebrauch straflos stellen –  egal, aus welchen Quellen sie stammen.

Damit würde man jedoch die Büchse der Pandora öffnen. Kommen wir nochmal zur Kirschbaum-Analogie: Wer auf seiner Streuobstwiese 100 Bäume mit jeweils 1000 Kirschen stehen hat, wird den Verlust von ein paar Dutzend Früchten kaum bemerken oder gar beklagen. Wenn aber 10.000 Spaziergänger im Lauf der Saison jeweils 10 Kirschen pflücken, sind die Bäume leer. „Unzulässiger Vergleich“, sagen Sie? Weil in diesem Fall tatsächlich was Gegenständliches (Kirschen) geklaut wird, was nachher nicht mehr am Baum hängt, während selbst bei 100.000 ungenehmigten Kopien eine Originaldatei immer noch unbeschädigt auf dem Server liegt? Nicht unbedingt.

Abstrahieren wir ein wenig und setzen den Kirschbaum mit einem Komponisten gleich. Beide erschaffen in einem bestimmten Zeitraum eigene, individuelle Werke – der eine Kirschen (keine exakt so wie die andere), der andere Musikstücke (meist ebenfalls unterscheidbar, bei Bohlen nicht so sehr). Die Menge dieser Werke ist über die jeweilige Lebensdauer nur von der „Fruchtbarkeit“ vorgegeben. Selbst ein leergepflückter Kirschbaum kann im Jahr darauf wieder Tausende Früchte tragen, ein guter Komponist wird sich auf lange Sicht nicht „leerkomponieren“. Beiden könnte es also theoretisch egal sein, ob ein paar ihrer Werke unentgeltlich über den Tresen gehen. Sie verlieren ja eigentlich nichts.

If you pay peanuts you’ll get monkeys

Die Praxis sieht anders aus: Der Kirschbaum ist darauf angewiesen, regelmäßig gepflegt, mit Wasser, Licht und Mineralien versorgt zu werden und dass Bienen seine Blüten zum richtigen Zeitpunkt bestäuben. Sonst wird das nix mit den Früchten. Ohne Material- und Arbeitseinsatz verwildert der Baum oder geht ein. Der Komponist hat zwar nicht exakt die gleichen Bedürfnisse, kann aber ebenfalls nicht kostenlos am Leben und Arbeiten erhalten werden. Das bedingen die aus der Betriebswirtschaftslehre bekannten Investitionsgüter, Roh, Hilfs- und Betriebsstoffe, die gerade bei Musikern und Komponisten ganz schön ins Geld gehen können.

Wenn es nun aber ein Grundrecht auf freien und kostenlosen Zugang zu Kirschen und Kulturgütern (zu denen auch jounalistische Werke zählen) gäbe, wäre der Effekt für Bäume und Profi-Künstler/-Schreiber der gleiche: Sie würden sehr schnell aussterben. Womöglich fiele das einigen Konsumenten nicht mal groß auf, denn sie beurteilen das häufig nach dem alten Spruch: „Was nichts kostet, ist auch nichts wert“. Übrig blieben deshalb allenfalls Hobbyisten und Amateure, die von ihren Werken nicht leben müssten und sie deshalb problemlos unter freie („Creative Commons“-) Lizenzen oder gar gemeinfrei stellen könnten. Als „wertvoll“ würden sie jedenfalls nicht anerkannt.

Die „Gesetze des Marktes“ mit einer Regelung des Preises über Angebot und Nachfrage sind außer Kraft gesetzt, wenn der Preis bei „Null“ festgelegt wird. Qualität spielt dann aber mangels „Belohnung“ ebenfalls keine Rolle mehr – das Angebot verarmt. Man kennt das in abgeschwächter Form schon von alten DDR-Zeiten, wo unter anderem der Bierpreis in Gaststätten staatlich auf beeindruckend niedrigem Niveau fixiert war und das Optik- und Geschmackserlebnis des Gebräus (zumindest für mein West-Empfinden) im Gegenzug extreme Nehmerqualitäten verlangte. Aber sie mussten ja irgendwie weg, die 25 Zwangsumtausch-DDR-Märker – damals in den 1980ern.

Das Überfluss-Phänomen

Fragen Sie mal einen engagierten Filesharer, ob er sich wirklich alle tausende heruntergeladenen Filme schon mal angeschaut oder hunderttausende Musikstücke intensiv gehört hat. Wahrscheinlich weiß er es nicht mal, weil er schon lange den Überblick verloren hat über die Masse an kosten- und somit wertlosem Zeug auf der Festplatte. Häufig verkommt da das Herunterladen zum Selbstzweck; das Produkt spielt keine tragende Rolle mehr, weil es im Überfluss vorhanden und ohne nennenswerten Arbeits- und Materialeinsatz erhältlich ist.

Ich kenne das aus Konsumentensicht auch – nicht vom Herunterladen, sondern vom Kirschbaum aus Kinderzeiten. Wir hatten nämlich ein großes und sehr fruchtbares Exemplar im Garten vor dem Haus. Während der Saison gab es deshalb täglich Kirschen-haltige Gerichte in allen möglichen Variationen – nach spätestens einer Woche kamen mir die roten Dinger zu den Ohren heraus.

Meine aus der Not geborene Lösung: So eine Art Filesharing. Ich pflückte ohne Wissen der Eltern ein paar Spankörbchen voll vom Baum und versuchte, die Kirschen auf dem Gehsteig vor dem Haus zu verkaufen. Wahrscheinlich hätte ich sie auch verschenkt, wenn die Dinger nur weg und die Zweige leer gewesen wären. Blöd, dass mich jemand aus der Nachbarschaft verpetzte und sich dieses Problem jedes Jahr auf’s Neue stellte. Noch heute esse ich fast alle möglichen Sorten Obst, bloß keine Kirschen.

Jahre später lernte ich dieses Überfluss-Phänomen auch aus der Perspektive des Musikkonsumenten kennen. Als Zeitungsredakteur schrieb ich zeitweise auch Plattenkritiken für unsere „Jugendseite“. Wöchentlich gab’s einen Stapel (natürlich kostenlose) Rezensions-Langspielplatten, die durchgehört werden wollten. Was ich anfangs noch toll fand, wurde nach einiger Zeit erst zur Selbstverständlichkeit und dann zu einer lästigen Schwemme.

Einen wirklichen Wert hatten die meisten schwarzen Scheiben für mich nicht mehr; bis heute behalten habe ich nur die Singles und LPs, die ich mir schon als Jugendlicher vom Taschengeld sauer abgespart hatte (die erste war übrigens „Elected“ von Alice Cooper, weiß ich auch nach vier Jahrzehnten noch genau) oder die mir von Freunden und Verwandten geschenkt worden waren (begann mit „Mexico“ von den Les Humphries Singers).

Die Quadratur des Kreises

Der scheinbare Widerspruch zwischen den Positionen der „Raubkopierer“ und der „Content-Mafia“ (um mal die gegenseitigen Kampfbegriffe zu verwenden) ist eigentlich keiner, wenn wir die offenkundig rechtswidrigen und unsinnigen Extreme auf beiden Seiten ausklammern und uns vom Gedanken verabschieden, dass es in Sachen Urheber- und Nutzungsrechte einen Königsweg geben könnte, der allen gerecht wird. Perfekte Lösungen für komplexe Herausforderungen gibt es nicht, nirgendwo. Es geht darum, einen Kompromiss zu finden, der auf der einen Seite einen fairen (nicht unbedingt kostenlosen) Zugang zu werthaltigen Kulturgütern und auf der anderen Seite den Urhebern ein auskömmliches Einkommen und Arbeiten ermöglicht – gerne auch in Relation zu Resonanz und Erfolg ihrer Werke.

Dabei werden wir weiterhin nicht ohne Verwertungsgesellschaften und Lizenzen auskommen, denn Urheber können nur in einer idealen und sehr kleinen Welt darauf hoffen, dass sie ohne Hilfe Dritter jede Nutzung ihrer Werke überblicken und dafür sorgen können, dass sie regelkonform erfolgt und angemessen honoriert wird. Das wäre in etwa die selbe Welt, in der es kein Strafgesetzbuch braucht, weil sich jeder automatisch an die Gesetze hält – reine Utopie.

Deshalb wird’s auch nicht ohne Sanktionen für Regelverletzer gehen. Dreistellige Abmahngebühren für das private Herunterladen von einigen Songs oder das Zitieren von Zeitungsartikeln (Stichwort „Leistungsschutzrecht für Presseverleger“) sollten nicht dazu gehören, deftige Strafen für kommerzielle Urheberrechtsverletzer (wie Megaupload, kino.to, chinesische Industriedesign-Plagiatoren oder einige deutsche Verlage) dagegen schon.

Das Internet sollte dabei nicht als eigenständiges, neues Territorium oder gar „Tatort“ behandelt werden. Es ist nur ein zusätzliches, sehr schnelles und weltumspannendes Netz für alles, was auch früher schon digital verbreitet und kopiert werden konnte, und stellt somit keinen „rechtsfreien Raum“, sondern einen selbstverständlichen Teil der gesetzesregulierten Welt dar – mit einem ähnlichen Anteil von Anarchie, Anonymität und Kriminalität.

Wie ein solcher Kompromiss genau aussehen könnte, weiß ich nicht. Er könnte ohnehin erst nach langen Gesprächen zwischen den vermeintlichen „Feinden“, die eigentlich keine sind, gefunden werden. Das Ziel muss ein gemeinsames sein: Kulturgüter sollen ihren Wert haben und behalten – für den Konsumenten und für den Schöpfer.

10 Gedanken zu „Kultur und Kirschen brauchen ihren Wert

  1. Danke, aber das sollte eher als moderates Murmeln und nicht als lautes Brüllen verstanden werden – gebrüllt wird zu diesem Thema anderswo schon viel zu viel und zu heftig. 😉

  2. Bin sehr erfreut, weil ich finde, Sie denken in die Richtung, in der die Lösung zu suchen ist: Man muss zu Schwellen-Definitionen kommen, um das Geringfügige vom nicht Geringfügigen zu unterscheiden. Die Schwellen sind dabei je nach Sparte verschieden zu definieren. Hauptsache man kommt davon weg, dass jedes daumennagelgroß zitierte Foto auf irgendeinem Blog ohne nennenswerte Leserschaft gleich einen Anspruch auf Geld bei irgendeiner Verwertungsgesellschaft auslöst.

    • Es gibt sogar eine weltweit anerkannte und bewährte Vorlage für so ein Schwellenkonzept: Das Patentrecht, das ebenfalls eine geistige Leistung schützt und eine Erfindungshöhe voraussetzt sowie eine private, nichtkommerzielle Nutzung sowie eine Nutzung zu Versuchszwecken erlaubt.
      Mir ist völlig unklar, warum man z.b. auf ein paar dadaistische Wortfetzen oder eine Aneinanderreihung von Zitaten fast automatisch einen mehr als lebenslänglichen Schutz auf geistiges Eigentum bekommt, während die, die mit ihrer Geistesleistung echten Gebrauchsnutzen schaffen, deutlich höhere Hürden zu überwinden haben.
      Kurzum: Ich votiere für eine Gleichbehandlung aller Arten geistiger Leistungen und somit den Ersatz des Copyrights durch Patentrecht.

  3. Der Beitrag trifft es – ein Kompromiß ist erforderlich, Maß ist angemessen.
    Wobei auch nur ein geringer Bruchteil des Deutschen Volkes überhaupt dazu fähig ist, Kopien zu erstellen.

    Viele verlassen sich auf die unterirdisch miserable Bild- und Tonqualität der Streaming-Dienste und sind zu faul zum Googeln.
    In Deutschland ist Technik nur Oberflächlich bekannt, viele haben wenig Ahnung und wenige viel Erfahrung.
    AM Beispiel Lampenkauf sehe ich das immer wieder, es wird an Leistungsaufnahme geklammert und die Baugröße der Lampen, es besteht beim Durchschnittlichen Käufer kein Hintergrundwissen zum Thema Licht.

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  6. Welch Ironie, daß sie in diesem Zusammenhang ausgerechnet Megaupload – genauer gesagt Kim Schmitz – in der wohlfeilen Rolle des Bösewichts erwähnen.

    Dabei wäre er eher ein Teil der Lösung als des Problems gewesen. Immerhin hat er sich tatsächlich Gedanken um so einen Kompromiß gemacht, wie er hier gefordert wird.

  7. Der Witz am Kapitalismus, oder besser gesagt an der Marktwirtschaft, ist übrigens, daß nicht die Anbieter die Preise diktieren, sondern die Konsumenten bestimmen, was ihnen die angebotene Ware wert ist. Einen Kaufzwang gibt es nun mal nicht. Wenn den Kunden eine Ware den Preis nicht wert ist, zu dem sie angeboten wird, muß der Anbieter die Ware senken – oder untergehen.

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