TV-„Quoten-Quatsch“: Kress reagiert auf Proteste (Update 6.3.)

Der Mediendienst „kress“ veröffentlicht seit dem heutigen Freitag nicht nur eine Übersicht der Marktanteile von TV-Sendungen in der Phantom-Zielgruppe „14-49 Jahre“, sondern auch eine Rangfolge bei allen Zuschauern ab drei Jahren. Begründet wird das offiziell mit „dem vielfachen Wunsch unserer Leser“. Die Unterschiede der Sendungen und Platzierungen in den beiden Hitlisten sind gewaltig.

Kress-Quoten 14-49
Ausschnitt aus der traditionellen „kress“-Quoten-Hitliste für den 1. März …

kress-Quoten ab 3
… und die ersten Fünf der neu hinzugefügten Charts für die gesamten Zuschauer ab drei Jahren. Hier finden sich erwartungsgemäß völlig andere Sender und sogar so was Exotisches wie Nachrichtensendungen (die in den Top 15 der oberen Hitliste nicht auftauchen).

Manche Bretter sind so dick, da muss man etwas länger bohren. Seit fast zwei Jahren nerve ich regelmäßig diverse Online-Mediendienste in den Kommentarfeldern mit Kritik an den TV-Quoten für die „werberelevante Zielgruppe 14-49“. Diese frei erfundene Altersspanne war ein Ende der 1980er-Jahre vom damaligen RTL-Chef Helmut Thoma und seinen Mitarbeitern für den deutschen Markt adaptierter Marketing-Trick. Abgekupfert hatte er das vom US-TV-Markt der 1950er. Die Vorgabe war damals einfach, der Werbewirtschaft die jeweils eigene Zuschauerklientel als besonders „wertvoll“ und „relevant“ zu verkaufen.

Das hatte – wie Thoma 20 Jahre später freimütig zugab – nichts mit der Realität zu tun, wurde seither auch mehrfach in Frage gestellt und widerlegt, hielt sich aber trotzdem hartnäckig bis heute. So entwickelten sich über lange Zeit Programmformen und Sendungen, die von weniger als 15% der Gesamtzuschauer gesehen wurden, zum allgemeinen Erfolgs- und Werbeplanungs-Maßstab. Privatsender hielten sich schon aus Eigeninterese sklavisch an die willkürlich herausgehobene Teilmenge, Buchungsagenturen und Medienjournalisten machten das sinnlose Spiel aus Ahnungslosigkeit und Bequemlichkeit mit, und selbst die öffentlich-rechtlichen Anstalten wollten oder konnten sich dem Quoten-Quatsch nicht völlig entziehen.

Weil selbst die bei den Gesamtzuschauern sehr beliebten Sendungen in den offiziellen „14-49“-Charts nur ganz hinten oder überhaupt nicht mehr auftauchten, geriet manch ambitioniertes und eigentlich auch erfolgreiches Projekt unter Rechtfertigungsdruck. Es wurde ja in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet, weil dessen Fans zum größten Teil über 49 Jahre alt und deshalb keine Zielgruppe für die Auftraggeber der TV-Spots mehr waren (dass diese Spots ohnehin nach 20 Uhr nicht mehr bei ARD und ZDF gebucht werden können, spielte da seltsamerweise keine Rolle).

Dabei käme wohl kein vernünftiger Mensch auf die Idee, dass die immer zahlreicher werdende 50+-Bevölkerung ausschließlich aus Konsumverweigerern bestehen und Werbebotschaften wegen mangelnder Seh-, Hör- und Finanzkraft nicht mehr wahrnehmen und umsetzen könnte, während etwa 14-18jährige üblicherweise zur Gruppe der „Haushaltsführenden“ zählen sollten. Selten wird Absurdität so deutlich.

Immerhin: Es gab zarte Ansätze, aus dem unsinnigen Schema herauszukommen. Das Medienmagazin „DWDL.de“ wies ab Juli 2010 zusätzlich die TV-Quoten für die Altersgruppe 20-59 Jahre aus. Der ARD-Vermarkter AS&S hat die gleiche Zielgruppe als „Erwachsene“ aufgeführt. Bei „Quotenmeter.de“ können Sie die Gesamtzuschauer-Marktanteile ab drei Jahren finden, wenn Sie lange genug suchen. Ähnliches gilt für „Meedia.de“. Insgesamt änderte sich aber nichts Wesentliches – auch der von mir seit Mitte der 1990er beobachtete „kress“-Mediendienst blieb ungeachtet einiger Leserproteste stur und ausschließlich bei seinen „14-49“-Hitlisten – bis gestern.

Der Sinneswandel war wohl schon einige Zeit virulent, wurde aber offenbar seit Anfang der Woche ordentlich in Schwung gebracht. Der am Montagmorgen von „kress“ veröffentlichte Überblick zu den TV-Quoten des Vortages avancierte zum meistkommentierten Beitrag der Woche (ja, auch mit meiner hartnäckigen Mitwirkung). Zu offensichtlich abseitig war die Behauptung, der Sonntags-„Tatort“ habe mit einem Marktanteil von 18,4% gegen „Slumdog Millionär“ bei ProSieben (20,5%) verloren.

Hatte er natürlich nicht, denn mit insgesamt über neun Millionen Zuschauern übertraf der ARD-Quotenbringer die private Konkurrenz um mehr als das Doppelte. Zurecht ärgerte sich zum Beispiel Kai Kirstein in den Kommentaren:

Die ARD hatte 23,5 Milionen Zuschauer und Pro 7 hatte 11,8 Milionen Zuseher. Für die ARD ist die Zahl der Werberelevanten unwichtig, da sie Sonntags und nach 20:00 Uhr sowieso keine Werbung ausstrahlen darf. Wieso Pro7 mit halb so vielen Zuschauern die ARD in Bedrängnis bringt, verstehe ich nicht.

Ein anonymer „fragnicht“ erklärte:

Ich kann den Kommentatoren nur zustimmen. Seit Jahren ärgert mich die bewusste Verfälschung der Reichweiten, damit Privatsender zu Reichweitenkönigen werden. Resultat ist leider, dass die Qualität der öffentlich-rechtlichen sinkt, anstatt die der Privaten nach oben zu treiben. Gott sei Dank gibt es noch Niveau-Fernsehen, und das sogar im Krimigenre. Ein großer Dank an die Macher des Münchner Tatorts, der immer wieder überzeugt.

Ein Peter F. Meyer schrieb:

Schafft endlich diesen Quoten-Quatsch ab und ändert die Playlist in Rangfolge ALLER Einschalter (ich bin auch schon tot, also über 49)

Thomas Bauer hakte nach:

Sobald RTLPRO7SAT1 festellen, dass die mitgealterte Zuschauerschaft die größten Vorteile im eigenen Marktanteil zwischen 20 und 59 bringt, wird eben das zur „Zielgruppe“ erklärt. Oder die evaluierte SHCGA, die Split-Highlighter-Core-Group-Addition 14-19 + 25-33 + 39-53 😉 … und alle Mediendienste feiern mit, lol. Mal im Ernst, KressTuriMeediaHorizontWuV – wollt ihr diesen Schmarrn nicht endlich mal beeerdigen oder zumindest in die zweite Reihe nach den Gesamtzahlen verschieben?

Und siehe da: „Kress“ wollte und konnte. Schon an diesem Freitag wurde der „Quotencheck“ ergänzt. „kress“-Volontärin Melanie Melzer erläuterte das in ihrem Kommentar:

Ab heute gibt’s eine Neuerung im kress-Quotencheck: Auf vielfachen Wunsch unserer Leser veröffentlichen wir eine zusätzliche Tabelle für das Gesamtpublikum. Viel Spaß damit!

Der Beifall der Leser war ihr sicher. Thomas Bauer kommentierte:

Da bei Kress so schön plakativ die Senderlogos vorne stehen, erkennt man hier jetzt wunderbar auf einen Blick den Irrwitz der (noch?) zuerst gezeigten Tabelle: Kein öffentlich-rechtlicher Sender in der Tabelle, keine einzige der Produktionen mit mehr als vier Millionen Zuschauern sichtbar. In der Gesamttabelle zeigen sich die Realitäten: Kein Privatsender unter den Top 8 an diesem Tag. Natürlich wird das in Zukunft vermutlich meist bunter aussehen, auf jeden Fall ehrlicher. Nachmachen Kollegen!

Ich bin mal gespannt, wann die nächsten Schritte kommen: Zuerst die Gesamtzuschauer-Hitliste nach oben und dann bitte die „14-49“-Charts ganz weg. Braucht nämlich keiner.

Update 4.3.: Inzwischen sind beide Tabellen von der „kress-Quotencheck“-Seite verschwunden. Offenbar werden die Charts dort prinzipiell nach einiger Zeit aus den Beiträgen entfernt. Bei den älteren Texten ist jedenfalls nirgendwo mehr eine Tabelle zu finden.

Update 6.3.: „Kress“-Redakteur Marc Bartl erklärte die Entfernung heute auf entsprechende Anfragen so: „Das hängt mit dem Nutzungsrecht zusammen.“ Inzwischen wird das Thema auch auf „radioforen.de“ besprochen und darüber spekuliert, ob sich zukünftig auch der Radio-Werbemarkt vom „Jugendwahn“ lösen könnte. Morgen (7.3.) Vormittag wird die „Media-Analyse (ma) 2012 Radio I“ mit den aktuell erhobenen Marktanteilen der deutschen Sender veröffentlicht. Auch dort gibt es die getrennte Ausweisung einer „werberelevanten Zielgruppe 14-49 Jahren“.

4 Gedanken zu „TV-„Quoten-Quatsch“: Kress reagiert auf Proteste (Update 6.3.)

  1. Werbung ist nicht dazu Verbrauchern Zb beizubringen Waschmittel zu kaufen,dass machen sie in der Regel sowieso. Nein man möchte Leute die Waschmittel A nutzen dazu bringen Waschmittel B zu kaufen.
    Und bei den älteren Menschen ist es nun einmal so, das sie markentreu sind. Die wechseln mit Zb. 60 ihre Waschmittelmarke in der Regel nicht mehr. Daher kommt bei ihnen die Werbung auch nicht an.

  2. Applaus! Es wurde längst Zeit, dieser albernen tagtäglichen Zahlenspielerei der Privatsender einen Riegel vorzuschieben. Denn die Zahlen sind immens wichtig! Sie sind Vergleichswerte, die u.a. eben auch dazu führen, wie sich Programme – noch dazu die öffentlich-rechtlichen – weiterentwickeln. Die Trickserei der Quotenerhebung durch willkürliches Herauspicken einer Zielgruppe hat hoffentlich ein Ende!

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