„Sonnenallee“ auf YouTube – das Sperrungs-Märchen

Sonnenallee YouTube
Seit gestern (mit kurzer Unterbrechung) auf YouTube zu sehen: Die 1999 produzierte Komödie „Sonnenallee“.

Es war einmal ein magischer Moment für alle sensationslüsternen Boulevardmedien und Verschwörungstheoretiker, mit allen vermeintlichen Zutaten für eine Aufsehen erregende Absurdität: Ein Kino-Hit aus den 1990ern, in dem es unter anderem um verbotene Musik in der DDR geht, soll eigentlich ungekürzt auf dem Google-Videoportal YouTube gezeigt werden, ist aber dann doch nicht zu sehen, weil’s die GEMA wegen der darin enthaltenen Musik verboten hat. Geile Geschichte, weil sie doch glasklar beweist, dass wir in einer Diktatur der bösen Rechteverwerter und einer kapitalistischen Gesetzgebung leben, die uns arme Wichtel von der Kultur in Rotkäppchens Film- und Musikstube ausschließt und stattdessen dem großen, bösen Wolf die Goldbarren in den Rachen schiebt.

Nur zu gerne sprangen die üblichen Märchenerzähler darauf an. „Computer-Bild“ titelte:

Sonnenallee: GEMA sperrt Gratisfilm bei YouTube – oder doch nicht?

Mit „Sonnenallee“ zeigte YouTube erstmals offiziell einen deutschen Kinofilm in voller Länge – bis die GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) einschritt. Jetzt funktioniert er wieder.

Bei Twitter, Facebook und Google+ schlugen die Wellen der Empörung hoch:

GEMA nach Hause!!!

wieder hinter der Mauer.

Was für ein FAIL: Die GEMA hat Sonnenallee auf Youtube sperren lassen.

Auch Menschen, denen man eigentlich keinen Hang zu Fabeln unterstellt, ordneten die Angelegenheit erstmal falsch ein:

DER 1. DEUTSCHE KINOFILM KOMPLETT AUF YOUTUBE NICHT ZU SEHEN

Nur wenige Kollegen machten sich die Mühe, mal bei Google oder der GEMA nachzufragen, weshalb denn der Film für rund 45 Minuten nicht zu sehen war, sondern nur der YouTube-übliche, irreführende Hinweis:

Leider ist dieses Video, das Musik von SME enthält, in Deutschland nicht verfügbar. Die GEMA hat die Verlagsrechte hieran nicht eingeräumt.

Wer die YouTube/GEMA-Diskussion in den vergangenen Wochen verfolgte und sich einigermaßen kundig gemacht hatte, dem musste allerdings bereits ohne Recherche klar sein, dass es nicht die GEMA gewesen sein konnte, die das Video sperren ließ. In fast allen Fällen ist es nämlich Google selbst, das bisher nicht die Musik-Nutzungsrechte für Deutschland in der von der GEMA geforderten Höhe bezahlen möchte und deshalb mit der Ausstrahlung dieser Videos eine Urheberrechtsverletzung begehen würde.

Nach kurzer Zeit wurde auch ziemlich übereinstimmend von der GEMA und Google bestätigt, dass die kurzzeitige Sperrung durch einen Fehler bei YouTube passierte. Google-Pressesprecher Kay Overbeck erklärte dem Magazin „MusikWoche“:

Wir können bestätigen, dass der Kinofilm „Sonnenallee“, der derzeit in voller Länge und kostenfrei auf YouTube abrufbar ist, heute morgen für kurze Zeit nicht abgerufen werden konnte. Das Problem wurde innerhalb von 45 Minuten gelöst, so dass Filmfreunde diesen Klassiker nun wieder auf YouTube genießen können.

Die GEMA informierte am Mittag via Twitter und Facebook:

Die GEMA hat die Blockierung dieses Films nicht veranlasst. Das deutsche Urheberrechtswahrnehmungsgesetz besagt, dass die GEMA die Rechte gar nicht verweigern kann und darf (Kontrahierungszwang). YouTube hat diese Rechte bislang nur noch nicht erworben. Trotz der aktuellen Streitigkeiten kann YouTube dies aber jederzeit tun – auch ohne Lizenzvertrag. Als zweite Möglichkeit neben dem direkten Erwerb der entsprechenden Rechte wäre für YouTube auch eine Hinterlegung, wie sie klassisch nach dem Urheberrechtswahrnehmungsgesetz vorgesehen ist, möglich, um die Inhalte legal nutzen zu können.

Das klingt nun leider überhaupt nicht mehr märchenhaft, sondern viel zu prosaisch für deftige Schlagzeilen. Vermutlich interessiert die Freunde der einfachen „Wahrheiten“ bei den Journalismus-Surrogaten deshalb auch nicht, wie das mit der „Hinterlegung“ genau funktionieren könnte und wie YouTube-Nutzer in Deutschland sofort und fabelhaft davon profitieren würden. Immerhin scheint ja das Problem mit den Nutzungsrechten der Musik zumindest im Film „Sonnenallee“ bereits durch eine gute Fee gelöst worden zu sein. Egal, Hauptsache: YouTube „gut“, GEMA „böse“ – und das lassen sich die Märchenerzähler nicht durch irgendwelche blöden „Recherchen“ kaputt machen.

P. S.: „Videopunk“ Markus Hündgen hat inzwischen – unabhängig von mir – in seinem Beitrag für’s „Hyperland“-Blog zu diesem Thema ebenfalls die Märchen-Allegorie verwendet. Die GEMA selbst bezeichnet die Angelegenheit in ihrem Blog als „Posse“.

Update 01.11.2016: Der jahrelange Rechtsstreit zwischen YouTube und der GEMA um die Nutzungsrechte von Musikvideos scheint nun überraschend und außergerichtlich beendet worden zu sein. Die Videos sind deshalb ab sofort auch für Nutzer mit deutschen IPs zu sehen. Laut GEMA sichert das Abkommen „den rund 70.000 Komponisten, Textdichtern und Verlegern endlich eine Beteiligung für die Nutzung ihrer geistigen Schöpfungen auf YouTube“. Wie viel YouTube jetzt pro Videoabruf bezahlt, unterliegt allerdings einer Stillschweige-Vereinbarung.

2 Gedanken zu „„Sonnenallee“ auf YouTube – das Sperrungs-Märchen

  1. Pingback: Fastvoice-Blog » Blog Archive » “Spotify” und die erfundenen 200 GEMA-Millionen

  2. Pingback: Fastvoice-Blog » Blog Archive » Kultur und Kirschen brauchen ihren Wert

Kommentare sind geschlossen.