Der „rechtsfreie Raum“ – außerhalb des Internets

Nein, natürlich gibt es in Wirklichkeit keine „rechtsfreien Räume“, teils noch nicht mal im Weltraum (vermutlich könnten sogar unzüchtige Handlungen mit einer Flaggenstange auf der Mondoberfläche verfolgt werden; allerdings existieren meines Wissens noch keine Gesetze, die das Mitführen eines Personalausweises in einer Spiralgalaxie wie dem Sombreronebel vorschreiben, so lange sich nicht CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich dieser eklatanten Sicherheitslücke annimmt). Hier auf der Erde herrscht aber verbreitet die Wahrnehmung einer mangelnden Gesetzgebung oder Strafverfolgung, regelmäßig befeuert von Populisten in Politik, Wirtschaft, TV-Talkshows und Boulevardmedien.

Meist geht es dabei um verabscheuungswürdige und vermeintlich zu schwach oder gar nicht bestrafte Delikte wie Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Körperverletzung, Ebay-Betrug, Beleidigungen in Blogs oder illegale Downloads – das Empörungsniveau ist trotz der Fallhöhe jeweils durchaus vergleichbar. Der rechtsfreieste Raum scheint dabei das böse Internet zu sein – hier darf offenbar jeder ungestraft jeden Unsinn und jedes Verbrechen verüben, außer RTL II kommt dahinter und verpfeift die Täter. Soweit die „gefühlte Realität“.

Blöd nur, dass die Tatsachen ganz anders aussehen. Die „Polizeiliche Kriminalstatistik 2010“ des Bundeskriminalamtes ist vor Kurzem komplett veröffentlicht worden (pdf-Download, 673 Seiten) und zeigt anhand der (mit Vorsicht zu genießenden) Aufklärungsquoten zumindest in der Tendenz auf, dass nicht das Internet ein Dorado für Verbrecher ist (72,3 Prozent der hier angezeigten Delikte wurden aufgeklärt), sondern der kleine Teil Deutschlands, der außerhalb des Internets stattfindet (nur 56% Aufklärungsquote). Rund 80% der angezeigten Internet-Straftaten waren Betrugsfälle unterschiedlicher Art; Delikte wie „Verbreitung pornografischer Erzeugnisse“ oder Urheberrechtsverletzungen stellten mit jeweils nur rund 2% einen verschwindend geringen Anteil dar.

Handschellen
Klicken nach Internet-Delikten relativ häufig. (Foto: Wikimedia Commons, Lizenz: GNU)

Die hohe Aufklärungsquote kam übrigens weitgehend ohne die vieldiskutierte und bereits im März 2010 ausgesetzte „Vorratsdatenspeicherung“ zustande, obwohl die Gesamtzahl der Delikte gegenüber dem Vorjahr noch um rund 8% gestiegen war. Führende Verbrecher sind sich deshalb einig: Außerhalb des Internets haben sie die besten Chancen, bei ihrer Arbeit nicht erwischt und bestraft zu werden.

Als aussichtsreiche „rechtsfreie Räume“ könnte ich da zum Beispiel Gefangenenlager für vermeintliche Terroristen, Investment-Banken, Nahrungsmittelbörsen, Boulevardblatt-Redaktionen, den Straßenverkehr oder das Telefonnetz empfehlen, wo entweder nur wenige Regelschranken existieren oder bestehende Gesetze in der Praxis nicht angewendet werden können, weil es an Ressourcen, Kompetenz, Erfolgsaussicht, Verhältnismäßigkeit oder schlicht am Willen zur Strafverfolgung mangelt.

Vor allem die extrem hohen Zahlen bei bekannten Telefonbetrügereien (plus eine vermutlich noch erschreckendere Dunkelziffer) und die Macht- und Zahnlosigkeitlosigkeit der Bundesnetzagentur legen eigentlich eine sofortige Stilllegung aller Telefonleitungen und -Anlagen nahe. Gleiches gilt nach diesen Maßstäben für die Unsitte des motorisierten Individualverkehrs mit Toten, Verletzten, Sachbeschädigungen und täglich millionenfachen Überschreitungen der Tempolimits.

Aber Pustekuchen! Haben sie schon mal einen „Law and Order“-Politiker über den „rechtsfreien Raum Telefon“ oder „Straßenverkehr“ schimpfen hören? Ich nicht. Stattdessen verbreiten sie weiter das Märchen vom „rechtsfreien Raum Internet“, den sie folgerichtig auch selbst für den Einsatz illegaler „Trojaner“ oder für grundgesetzwidrige Gesetzgebungen nutzen. So erhält die Lüge wenigstens ein Körnchen Wahrheit.