Was „Homevideo“ mit Wikipedia zu tun hat

Fällt Ihnen an diesem Textausschnitt des Artikels „How I Met Your Mother“ (Link zur Versionsansicht) aus der deutschsprachigen Wikipedia was auf?

Wikipedia-Vandalismus

Diese Version des Artikels mit dem hinzugefügten zweiten Absatz bestand nur wenige Minuten und wurde schnell korrigiert. Zu sehen war sie als „ungesichtete Version“ ohnehin nur für angemeldete Wikipedia-Nutzer. Täglich werden tausende solcher Unsinnsbeiträge geschrieben und wieder rückgängig gemacht, häufig „schmuggelt“ sie jemand anonym während der üblichen Unterrichtszeiten aus Schul-Netzwerken (anhand der IPs zu belegen) in die Artikel. Da nach dem Wiki-System prinzipiell jeder an der Entstehung der Online-Enzyklopädie mitarbeiten kann, lässt sich das nicht vorbeugend verhindern. Meist bleibt nur die nachträgliche zeitweise Sperrung des jeweiligen Internetzugangs für Wikipedia, um kurz darauf folgende weitere Vandalierungen zu verhindern.

Dabei ist dieses Beispiel noch relativ harmlos. Sehr gerne wird Wikipedia als Plattform für Beleidigungen übelster Art genutzt – nach dem Muster: Die Jana aus der 7b is ne geile Schlammpe un lesst sich von Kevin aus der 9c fögeln! Das lässt nicht nur Rückschlüsse auf den Bildungsstand des Urhebers zu, sondern birgt für Unkundige auch die möglicherweise überraschende Erkenntnis, dass Vandalismus und Cyber-Mobbing nicht auf „Facebook“ „schülerVZ“ und Co. beschränkt sind.

Das preisgekrönte TV-Drama „Homevideo“ (die Erstausstrahlung war bereits am 18. August bei ARTE, die Zweitsendung am 19. Oktober in „Das Erste“) bot dazu für technik- und netzaffine Zuschauer zwar nicht viel Neues, schaffte es aber durch beeindruckende Ensemble-Leistung und stimmigem Drehbuch, das Thema auch dem durchschnittlich informierten „Mainstream“ nahe zu bringen. Das extreme Ende mit dem Selbstmord des Mobbing-Opfers dürfte nicht nur Eltern von schulpflichtigen Kindern in einen gehörigen Schock versetzt haben.

Homevideo-Szene
Szenenbild aus „Homevideo“: Links die Täter, rechts das Mobbing-Opfer. (Foto: ARD)

Naturgemäß lebt ein solcher Film von Dramatisierung und Vereinfachung und liefert gewiss kein prototypisches Bild der Cyber-Mobbing-Realität. In „Homevideo“ geschah das Mobbing in der Hauptsache „offline“ und nicht primär „online“. Dass es mit einem Tod endete, ist die Ausnahme und nicht die Regel, und dass die Verbreitung des geklauten Videos nur auf einer schulbezogenen Homepage erfolgte, ließ die weltweiten Distributionsmöglichkeiten anderer Plattformen außer Acht. Die Wirklichkeit kann harmloser, aber auch weitaus schlimmer sein.

Klugerweise ließ die ARD ihre Zuschauer nach Filmende nicht allein mit ihrem Schrecken und Diskussionsbedarf, sondern begann – abweichend vom Mittwochs-Programmschema – sofort (und angemessen sensibel ohne dazwischen geschaltete Programm-Teaser oder das sonst übliche knallige Sendungs-Intro) mit einer „Anne Will“-Talkrunde zum Thema Cyber-Mobbing. Auch hier gab es zwar mehr Fragen als Antworten, aber wenigstens ein paar Ansatzpunkte für’s weitere Nachdenken – zum Beispiel:

  • Kinder, die im Kindesalter von ihren Eltern nicht als Kinder behandelt werden, können später wegen mangelnder Entwicklung der Psyche und fehlender Empathie potenziell zu Tätern werden.
  • Kinder aus instabilen Elternhäusern und geringer sozialer Vernetzung sind bevorzugte Mobbing-Opfer.
  • An vielen Schulen fehlt eine bedarfsorientierte Erziehung zur Medienkompetenz; die meisten Eltern sind damit ohnehin überfordert, viele Lehrer aber ebenfalls.
  • Wer den Täter kennt, sollte ihn juristisch verfolgen lassen – die Erfolgsaussicht wird tendenziell besser, weil die Ermittlungsbehörden allmählich ihre Cyber-Mobbing-Blindheit ablegen.
  • Anonyme Täter können nur schwer ermittelt werden.

Eher untypisch war dabei der Fall des Studiogastes Lisa Loch, die 2003 mehrfach von Stefan Raab in dessen Sendung „TV total“ bei ProSieben gemobbt worden war. Hier spielte nämlich nicht das Internet, sondern das Fernsehen (oder das, was RTL und ProSieben dafür halten) die primäre Rolle. Dass solche billigen Schmähungen mit „lustigen“ Namen anschließend auch gerne weiterverbreitet werden, ist eine unausweichliche Folge von Trash-TV und seiner sensationsgeilen Zuschauer und nicht die Schuld des Internets. Und dass ein Mobbing-Opfer nach längerer Zeit 70.000 Euro Schadenersatz erhält, kommt auch eher selten vor.

Der „unvermeidliche Medienanwalt“ Christian Schertz verwies demgegenüber auf den juristischen Alltag in Sachen Cyber-Mobbing: Anzeigen führen häufig wegen „mangelndem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung“ (so die Staatsanwaltschaften) nicht zu Verfahren. Wenn dann doch Ermittlungen angestellt werden, scheitern sie häufig daran, dass zwar teilweise die IP-Adressen festgestellt werden können, von der aus anonym Taten begangen wurden, aber nicht die Täter selbst. Schließlich loggen sich etwa bei einer festen Schul-IP zahlreiche Schüler über die gleiche IP ein.

Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Zumindest bei Wikipedia wird jede anonyme Änderung – zeitlich unbegrenzt und öffentlich einsehbar – nicht nur mit der IP-Adresse, sondern auch mit der minutengenauen Uhrzeit dokumentiert. Damit ergibt sich ein weiterer Ansatzpunkt für Nachforschungen, denn nicht jeder Schüler wird die Schul-IP auch gleichzeitig nutzen. Eine Schule hätte theoretisch dazu die Möglichkeit, jedem Schüler eine individuelle Signatur (Nutzername und Passwort) zuzuweisen, ohne die er sich nicht ins Netzwerk einloggen kann. Anschließend wäre es problemlos möglich, jede Eingabe über die Schul-IP nachträglich einer Person zuzuordnen. In Unternehmensnetzwerken ist so etwas schon lange üblich.

Natürlich wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn drahtlose Netzwerke etwa von Bibliotheken und Cyber-Cafés sind so nicht zu überwachen. Zumindest läge aber die Hürde für das schnelle Cyber-Mobbing in der Schulpause ein Stückchen höher.

Dass der Film und sein Thema am Abend der Zweitausstrahlung sowie in der folgenden Nacht eine starke Resonanz erzeugten, war übrigens auch in den Twitter-Trends für Deutschland ablesbar: Der Hashtag „#Homevideo“ führte die Liste längere Zeit an. Ein großer Teil des Tweets widmete sich allerdings auch lieber dem von „Anne Will“ präsentierten, massenattraktiven „Nebenkriegsschauplatz“: „#LisaLoch“ lag knapp darunter bereits auf Platz 5 der Twitter-Charts – dank Tweets wie „Lisa Loch war auf einem katholischen Mädchengymnasium. Natürlich. Im Puff hat die Erdkunde gepaukt!“ – und das war noch einer der harmloseren. „#CyberMobbing“ schaffte es dagegen nicht in die Top Ten.

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