Von Norwegen lernen

Die Terroranschläge von Oslo und Utøya am 22. Juli verursachten unfassbares Leid, weltweit Trauer und Mitgefühl, aber auch unüberlegte und vorschnelle Reaktionen bei zahlreichen Medien und Politikern. Bei aller Tragik der Ereignisse könnten wir vielleicht ein wenig innehalten und einige Lehren daraus ziehen.

Trauer in Oslo
Mitleidsbekundung in der Osloer Innenstadt für die Opfer der Terroranschläge. (Foto: Johannes Grødem@Wikimedia Commons, Lizenz cc by-sa 2.0)

Nicht jeder Terroranschlag wird von Islamisten bzw. al-Qaida verübt. Direkt nach dem Bombenanschlag in Oslo war islamistischer Terror auf Platz eins der Verdächtigen-Hitliste der meisten Medien – von Al Jazeera und CNN über ARD, ZDF, „Bild“, „Phoenix“, n-tv und „Spiegel“ bis in die nordhessische Provinz in Fulda. Dabei gab es zu diesem Zeitpunkt von den norwegischen Behörden keinerlei offizielle Hinweise oder Pressemeldungen in diese Richtung. Die wilden Islam-Spekulationen von „Terror-Experten“ hörten auch nicht auf, als am frühen Abend immer mehr Meldungen von einer Schießerei auf der Insel Utøya kamen; völlig untypisch für eine al-Qaida-Aktion. Europol, die oberste Polizeibehörde der EU, registrierte 2009 insgesamt 294 Terroranschläge in Europa. Davon hatte nur einer (!) einen islamistischen Hintergrund. 2010 waren es 249 Anschläge, darunter drei von Islamisten. Hier wäre bei der Berichterstattung etwas weniger Hektik und Spekulation und etwas mehr Gelassenheit und Gründlichkeit angebracht gewesen, auch wenn’s schwer fällt.

Das Beschneiden von Bürgerrechten hilft nicht der Sicherheit, sondern den Terroristen. Norwegen begreift sich traditionell als „offene Gesellschaft“ und das wird sich wohl auch durch die Anschläge nicht ändern. Angenehm pragmatisch äußerten sich norwegische Politiker bei aller Trauer zu den Folgen der tragischen Ereignisse – schon bevor sich abzeichnete, dass ein irrer Einzeltäter am Werk war. Grenzen dichtmachen für Fremde? Das Regierungsviertel dauerhaft verbarrikadieren? Neue Anti-Terror-Gesetze? Aber nicht doch. Trotz aller Wut blieb in Norwegen die Erkenntnis im Vordergrund, dass eine Regierung mit solchen Maßnahmen genau das erreichen würde, was Terroristen und religiöse Fanatiker häufig beabsichtigen: Der Staat müsste sich zu jener Art der Diktatur entwickeln, zu der sie ihn in ihrer Propaganda schon zuvor erklärt und als Gegner erkoren haben. Diese Strategie ist auch in Deutschland spätestens seit den Verbrechen der RAF bekannt und war bei uns leider teilweise erfolgreich. Auch jetzt gibt es wieder politische Scharfmacher, die mit Verweis auf Norwegen weitreichende Bürgerrechte und eine multikulturelle Gesellschaft für Teufelszeug halten und stattdessen vermeintliche „Wundermittel“ wie die Vorratsdatenspeicherung fordern. Zur Erinnerung: Wir Deutsche haben im vergangenen Jahrhundert die größten Verbrechen weitgehend ohne Hilfe von Emigranten (wenn wir mal von diesem Österreich-Einwanderer absehen) und im Namen einer „reinrassigen“ Gesellschaft verübt. Und Norwegen hat gerade erst im April die Einführung der Vorratsdatenspeicherung beschlossen – geholfen hat sie in diesem Fall nicht.

Die größte Gefahr geht nicht von Ex-Strafgefangenen, sondern von bisher Unbescholtenen aus. Freigänger und Entlassene werden bei uns in jüngster Zeit – im Rahmen der Diskussion um die Sicherungsverwahrung – in der medialen Darstellung und öffentlichen Wahrnehmung als erhebliche Bedrohung für unsere Sicherheit gesehen; vor allem für unsere Kinder. Jeder Einzelfall wird in der Bedeutung massiv überhöht. Die Wahrheit ist jedoch: Über 90 Prozent aller sexuellen und gewaltsamen Übergriffe auf Kinder werden von engsten Angehörigen verübt, die bis dahin nicht straffällig geworden sind. Die meisten Verbrechen insgesamt gehen nicht auf das Konto von Ex-Knackis, sondern auf das von „ganz normalen“ Mitbürgern wie dem bis dato unbescholtenen 32jährigen Norweger – eigentlich eine triviale Erkenntnis, weil die Zahl der juristisch Unauffälligen natürlich erheblich größer ist als die der polizeibekannten Straftäter und sie deshalb ein, statistisch gesehen, riesiges „Reservoir“ darstellen. Die meisten Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung hätte man also mit einer „Precrime-unit“ wie im Film „Minority Report“ – der mutmaßliche, aber unerfüllbare Wunschtraum von so manchem deutschen „Sicherheits-Politiker“.

Es gibt kein Motiv und keine Rechtfertigung für einen Massenmord. Millionenfach durchgekaut werden aktuell in Foren, Portalen, Netzwerken und traditionellen Medien die kruden Veröffentlichungen, die politischen und religiösen Beziehungen sowie mögliche Vorbilder des mutmaßlichen Attentäters. Christlicher Fundamentalist? Islam-Hasser? Multi-Kulti-Feind? Freimaurer? Rechtsextremer? Leute, vergesst es, das ist alles irrelevant für eine Tat, bei der mehr als eine Stunde lang eine unfassbar große Zahl von wehrlosen Kindern und Jugendlichen gezielt – und offenbar mit sichtlichem Vernügen des Attentäters – exekutiert wurde. Auch ohne diesen Mann zu kennen, ist eine Ferndiagnose mit äußerst geringer Fehlermarge möglich: Ein psychisch schwer Gestörter hat seine finale „Heldentat“ über Jahre geplant und sucht nun im Licht der Öffentlichkeit die Anerkennung, die ihm vermeintlich gebührt. Jede Verbreitung seiner Bilder, seiner wirren Theorien und seiner persönlichen Hintergründe spielt ihm in die Hände und trägt für ihn jetzt nachträglich zur Rechtfertigung seiner Taten bei. Wer versucht, an das Handeln von psychisch Gestörten normale, „vernünftige“ Maßstäbe anzulegen oder nachvollziehbare Motive zu finden, landet immer in einer Sackgasse. Es existiert keine Logik in den erratischen Gedankengängen und Taten von Irren und Fanatikern. Auch die norwegische Justiz wird an dieser Erkenntnis nicht vorbei kommen. Man muss kein Prophet sein, um den Ausgang des Verfahrens vorherzusehen: Lebenslanges Wegsperren in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik wegen verminderter Schuldfähigkeit.

Es kann immer wieder passieren. Jederzeit. Überall. Jede Gesellschaft hat – unabhängig von der politischen und religiösen Ausrichtung oder der Schärfe ihrer Gesetzgebung – ihre „menschlichen Zeitbomben“. Die meisten fallen bis zum Lebensende höchstens durch verbale Attacken oder krude Veröffentlichungen auf, einige Wenige werden aber irgendwann einmal extrem virulent. Das hat primär nichts mit Privatfernsehen, Internet, Computerspielen oder den „modernen Zeiten“ zu tun – Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen gab es auch schon vor der Entdeckung der Elektrizität, teils sogar irre Gewalttäter an der Spitze eines Gemeinwesens. Das Risiko mag durch eine gute soziale Vernetzung verringert werden können, ganz ausschließen wird man es nie, schon gar nicht durch Gesetze.

2 Gedanken zu „Von Norwegen lernen

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