Auf Frankreichs Straßen geht’s schneller ins Jenseits

Preisfrage: Woran erkennen Sie in Frankreich einen deutschen Touristen? Zum Beispiel daran, dass er als Einziger in der Stadt vor einer roten Fußgängerampel wartet. Daran, dass er als Autofahrer beim Spurwechsel oder Abbiegen manchmal den Blinker benutzt. Daran, dass er die kreuz und quer über alle Fahrbahnen und rote Ampeln wuselnden Mofa- und Radfahrer beschimpft. Oder er outet sich als ausländischer Autofahrer, wenn er bei Dunkelheit nicht mit Stand-, sondern mit Abblendlicht fährt.

Was wie eine Sammlung von dummen Vorurteilen klingt, hat leider einen ernsten Hintergrund: Frankreich verzeichnet im Verhältnis zur Fahrzeugdichte und den gefahrenen Kilometern seit Jahren rund 20 Prozent mehr Verkehrstote als Deutschland. Bei uns gab es 2010 einen Rückgang auf 3657 Getötete, in Frankreich – bei erheblich geringerer Einwohner- und Fahrzeugzahl – auf knapp unter 4000. Solche Zahlen bringen die französische Politik regelmäßig dazu, mehr oder weniger drastische Maßnahmen zu ergreifen, die aber kaum Besserung bringen.

Radarfalle Frankreich
Eine der stationären französischen „Radarfallen“ der neuesten Generation; insgesamt gibt es rund 1900 „Blitzer“ an den Autobahnen und Nationalstraßen. (Foto: Céréales Killer@Wikimedia Commons, Lizenz: GNU)

Radarwarnschild FrankreichDiese Woche zum Beispiel haben die französischen Behörden damit begonnen, zahlreiche Radar-Warnschilder abzubauen (Bild rechts, Céréales Killer@Wikipedia FR, Lizenz: GNU). Diese kündigten bisher vor allem auf Autobahnen und vierspurigen Nationalstraßen stationäre Tempomessungen an und veranlassten viele Verkehrsteilnehmer zur kurzzeitigen Reduzierung der Geschwindigkeit, um nicht „geblitzt“ zu werden. Die Aktion ist Bestandteil eines ganzen Maßnahmenpakets, das die Regierung vor rund zwei Wochen angesichts stark steigender Unfallzahlen in den ersten vier Monaten des Jahres erlassen hat.

Weitere Punkte im Aktionskatalog: Überschreitungen des Tempolimits um mindestens 50 km/h können mit drei Monaten Gefängnis und Beschlagnahmung des Fahrzeugs geahndet werden. Die Handy-Benutzung während der Fahrt, Alkohol am Steuer und der Betrieb von „Radarwarnern“ werden stärker bestraft. Die Nummernschilder von Motorrädern sollen zur besseren Erkennbarkeit vergrößert werden und die Fahrerbekleidung muss Reflektoren enthalten. Wer als Motorradfahrer über einem Zeitraum von fünf Jahren keine Fahrpraxis nachweisen kann, muss zu einer Nachschulung. Höhere Strafen gibt es auch für Fußgänger, die bei „Rot“ die Fahrbahn überqueren.

Wer – wie ich – regelmäßig in Frankreich unterwegs ist, kann sich über diesen Papiertiger nur wundern. Keine der neuen Regelungen trifft wirklich die Probleme des französischen Straßenverkehrs. Falsch ist bereits die Grundannahme, dass der starke Anstieg der Unfallzahlen und Verkehrstoten Anfang des Jahres (rund 20 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2010) ein speziell französisches Phänomen sei. In Deutschland gab es mit einem Anstieg von etwa 16 Prozent eine ähnliche Entwicklung, die offensichtlich durch die außergewöhnlichen Witterungs- und Straßenverhältnisse zwischen Januar und April 2011 erklärt werden kann.

Auch en detail spricht vieles gegen den Maßnahmenkatalog: Tempolimits allein bringen kaum eine Senkung der Unfallzahlen, vor allem nicht bei schnee- und eisglatten Straßen, auf denen per se deutlich langsamer gefahren wird. Im Gegensatz zu Frankreich gibt es in Deutschland sogar noch einige unlimitierte Autobahnabschnitte, ohne dass dort signifikant höhere Opferzahlen zu verzeichnen wären. Französische Autofahrer halten sich nach meinen Beobachtungen überwiegend an die Limits (90 km/h auf Landstraßen, 130 – bzw. 110 bei Regen – auf Autobahnen); extreme Ausreißer sind extrem selten, zumal die Strafen dafür schon lange deutlich höher sind als bei uns.

An meinem „Stammstrecken“ A35, A4 und A350 gibt es seit Jahren – bis auf wenige Ausnahmen – keine Warnschilder direkt vor den stationären Radarfallen; die wären für Ortskundige und Pendler auch nicht notwendig, weil sie sowieso wissen, wo geblitzt wird. Motorradfahrer, die in Frankreich aktuell zu rund 30 Prozent (und damit stark überproportional) am Unfallgeschehen beteiligt sind, müssen sich vor diesen „Blitzern“ generell nicht fürchten: Die Kameras fotografieren meist von vorn. Weil Motorräder aber nur hinten Nummernschilder haben, können „Raser“ nicht identifiziert werden.

Höhere Strafen für das Fehlverhalten von Fußgängern und Radfahrern müssen wirkungslos bleiben, weil die bestehenden Regelungen schon bisher nicht durchgesetzt wurden und es wohl auch in Zukunft nicht werden. Französischen Polizisten geht es, nach meinen (nicht repräsentativen) Beobachtungen, am Allerwertesten vorbei, wenn Fußgänger oder Fahrräder bei „Rot“ die Fahrbahn überqueren und von den Autos teils nur knapp umkurvt werden können. Ähnliches gilt für die Benutzung von Handys am Steuer, was viele französische Autofahrer offenbar als unabdingbares Grundrecht ansehen – le blabla c’est moi!

Die Realität des Straßenverkehrs in unserem Nachbarland leitet sich offenbar direkt von zwei der drei Grundprinzipien der französischen Revolution ab: Liberté und Egalité (Freiheit und Gleichheit). Der französische Verkehrsteilnehmer will sich frei entfalten und staatlich verordnete Regeln sind ihm egal. Die Fraternité (Brüderlichkeit) ist dagegen eher selten anzutreffen. So dürfen Sie als Fußgänger auf einem „Zebrastreifen“ in Strasbourg nicht erwarten, dass ein Auto für Sie anhält – höchstens, wenn Sie schon mitten auf der Fahrbahn sind und ein Zusammenstoß unschöne Beulen und Flecken an der Fahrzeugfront verursachen würde.

Tatsache ist auch, dass der motorisierte Franzose fast nie den Blinker benutzt – nicht beim Spurwechsel, nicht im Kreisverkehr und nicht beim Abbiegen oder gar Losfahren vom Fahrbahnrand. Sehr gerne wird auch beim Einscheren von der Beschleunigungsspur auf die Autobahn ohne Blinker oder sonstigen Hinweis direkt auf den linken Fahrstreifen gewechselt, ungeachtet des von hinten heran brausenden Verkehrs. Dass all diese Dummheiten hochgradig unfallträchtig sind, muss wohl nicht extra erläutert werden.

Ein durchschnittlicher deutscher Verkehrssicherheitsexperte dürfte bei Teilnahme am französischen Straßenverkehr ständig am Rand eines Herzinfarkts stehen und sich sehr wundern, warum bei solchen Unsitten nicht noch viel mehr passiert als ohnehin schon. Die einfache Erklärung: Franzosen kennen diese libertäre Ausgestaltung der Mobilität schon von Klein auf und arrangieren sich damit. Kleinere Fehlleistungen der anderen Verkehrsteilnehmer werden deshalb mit Gelassenheit aufgenommen und gegebenenfalls mit einer Meisterschaft kompensiert, die ein autoritäts- und perfektionshöriger deutscher Autofahrer nie erreichen wird. Im umgekehrten Fall kann sich ein Verkehrsteilnehmer in Frankreich natürlich auf die Contenance der Anderen verlassen. Klappt meistens, geht aber manchmal auch furchtbar schief.

Dass in französischen Tageszeitungen die Beteiligten und Opfer eines Verkehrsunfalls meist mit vollem Namen und Wohnort genannt werden – in Deutschland unvorstellbar -, führt offenbar zu keiner Verbesserung der trüben Bilanz.

Im Grunde ihrer Herzen sehen sich viele französische Auto- und Motorradfahrer wohl als legitime Erben der legendären Rennfahrertradition der Grande Nation. Nicht umsonst gibt es hier so viele private Renn– und Teststrecken wie in keinem anderen Land der Erde (außer in den USA, aber die sind ja bekanntlich weitaus größer). Vitesse oblige: Jeder Clio-Fahrer verwandelt sich im Pariser Stadtverkehr in einen Alain Prost, jeder Scooter-Reiter ist dort ein Christian Sarron. Millimeter-Abstände beim Überholen, waghalsiges Kreuzen der Fahrbahn, beinhartes Verteidigen der Ideallinie, Beschleunigungsduelle und Ausbremsmanöver an Kreuzungen sind deshalb integrale Bestandteile des normalen Verhaltens und kein Anlass zur Beunruhigung.

Tempoanzeige
Statt der bisherigen Warnschilder vor Radarfallen sollen nun in Frankreich Geschwindigkeitsanzeiger ähnlich wie dieser für mehr Sicherheit sorgen. (Johann H. Addicks@Wikimedia Commons, Lizenz cc by-sa 3.0)

Sehr beunruhigt waren dagegen jüngst einige Abgeordnete der französischen Regierungspartei UMP über die geplante Demontage der Radar-Warnschilder. Innenminister Claude Gueánt musste auf heftigen Druck der Parteikollegen gestern Abend eine leichte Modifikation der Pläne verkünden – Autofreunde würden es „Tuning“ nennen: Anstelle der Schilder soll es vor den eigentlichen „Blitzern“ nun Tempo-Anzeiger geben, die eine gewisse pädagogische Wirkung auf eilige Fahrer haben. Das kostet den Staat allerdings doppelt Geld: Zum Einen für die Anzeigetafeln selbst, zum Andern wegen der entgangenen Bußgelder – durch die vor der Radarfalle eingebremsten Fahrzeuge.

Ein Gedanke zu „Auf Frankreichs Straßen geht’s schneller ins Jenseits

  1. Pingback: Fastvoice-Blog » Blog Archive » Ab Juli in Frankreich: Alkotest-Set Pflicht, Blasen aber nicht

Kommentare sind geschlossen.