Eher stürzt ein Regime als ein Programmschema (Update 10.2.)

Wieviel Live-TV verträgt eine Revolution? Wie sollten unsere öffentlich-rechtlichen Haupt-TV-Programme auf historische Umwälzungen wie in Ägypten reagieren? Darüber wird in den letzten Tagen heftig diskutiert und gerungen, wobei Kritiker und Kritisierte regelrechte Barrikadenkämpfe mit teils unverrückbaren Positionen ausfechten.

An vorderster Front: Die Intimfeinde ARD und FAZ. „Wir sind nicht dabei gewesen“, beklagte sich am 3. Februar FAZ-Journalist Jochen Hieber bitter über die mangelnde Ägypten-Präsenz in „Das Erste“ und im ZDF. Während auf dem Tahrir-Platz in Kairo und dessen Umgebung am 2. Februar heftige Auseinandersetzungen tobten, konnte man unbehelligt eine Daily Soap bzw. eine der zahlreichen Koch-Shows genießen. Wer von Ende Januar bis Anfang Februar Geschichte live und in aller Dramatik erleben wollte, musste sich an die englischsprachigen Programme von Al Jazeera und BBC World oder an das arabischsprachige Al Arabiya halten.

Tahir-Platz
Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo (Foto: Ramy Raooff@Wikimedia Commons,  Lizenz cc-by-2.0-deed)

Die Replik folgte postwendend. ARD-Aktuell-Chefredakteur Dr. Kai Gniffke verwies im Tagesschau-Blog unter anderem darauf, dass „Das Erste“ zahlreiche Nachrichtensendungen mit Live-Schaltungen gehabt habe und dass dieses eben ein Vollprogramm und kein reiner Nachrichtenkanal sei. Dafür habe man die fortlaufende Berichterstattung im Digitalprogramm „EinsExtra“. FAZ-Medienspezialist Michael Hanfeld legte noch eine Schippe nach und konstatierte: „Die kapieren nicht“. Der Verweis auf „EinsExtra“ zum Beispiel sei untauglich, weil dieses Digitalangebot bei Weitem nicht von jedem empfangbar sei.

Tagesschau-Online-Chef Jörg Sadrozinski hatte auf einen kritischen Blog-Kommentar von mir Ähnliches erwidert wie kurz darauf Gniffke:

„Natürlich kann man der Auffassung sein, dass das Erste bei den Ereignissen in Ägypten die “Roten Rosen” und andere Sendungen zugunsten von Nachrichtensendungen oder Brennpunkten kippt. Was ich aber nicht verstehe, dass Sie (und andere, wie heute der Kollege in der FAZ) behaupten, Sie müssten auf Sender wie Al Jazeera und Al Arabia ausweichen, weil in der ARD nicht berichtet würde. Warum schauen Sie nicht EinsExtra Aktuell, den digitalen Informationskanal der ARD? Dort gibt es Nachrichten im Viertelstundentakt, in denen die Situation in Ägypten permanent und aktuell beleuchtet wird. Eins Extra wird im Übrigen auch hier auf tagesschau.de und mobilen Geräten live gestreamt….“

Meine Antwort darauf im Tagesschau-Blog:

„Der Verweis auf die Digitalangebote hilft nur bedingt. “Das Erste” ist nun mal das (erheblich populärere) Hauptprogramm und sollte zumindest in der Lage sein, die Zuschauer bei aktuellen Ereignissen über Laufband, Extra-Tagesschau-Ausgaben etc. zu informieren. “EinsExtra” kann nicht von jedem überall empfangen werden (ist z. B. nicht im analogen Kabel oder in unserem DVB-T-Bouquet) und die viertelstündlichen Nachrichten sind nun wirklich nicht mit der fortlaufenden Berichterstattung von Al Jazeera oder teils auch BBC World gleichzusetzen.

Da offenbar doch einige Zuschauer ähnlicher Ansicht sind, sollten Sie nicht pauschal diese Kritiker kritisieren, sondern auch mal die eigenen Abläufe und Entscheidungen auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls korrigieren – ist ja teils sogar schon geschehen.“

Tatsächlich hatte die multiple Kritik anscheinend bereits in der selben Woche Auswirkungen: Der ARD/ZDF-„Ereigniskanal“ Phoenix bot immer längere Live-Strecken mit Bildern von al-Dschazira (hier das arabische Programm), der ZDF-Info-Kanal den Al Arabiya-Live-Stream, „Das Erste“ zeigte „Brennpunkt“-Sondersendungen nach der 20-Uhr-Tagesschau, das ZDF hatte „Extra“-Ausgaben vor bzw. nach den „Heute“-Sendungen. Selbstverständlich blieb auch dann noch genug Platz im Tagesprogramm für extensive Live-Übertragungen – nein, nicht aus Kairo, sondern von verschiedenen Wintersport-Ereignissen.

„Sport“ und „Winter“ sind ohnehin zwei Lieblingsthemen des ARD-Fernsehens, wie unschwer an „Brennpunkt“- bzw. „Sportschau extra“-Themen der letzten Monate zu erkennen ist. Eine Verletzung des Fußballers Michael Ballack oder eine größere Ansammlung von Schneeflocken (Schneechaos! Im Dezember! Unglaublich!) waren teils mehrfach Anlass für Programmänderungen, während ein Terroranschlag in Mumbai mit zahlreichen Toten offenbar keinen „Brennpunkt“ rechtfertigte. Hier war der pünktliche Beginn einer eher peinlichen Preisverleihung mit werblichem Charakter wohl wichtiger.

Es mag ja sein, dass solche Entscheidungen ganz im Sinn von vielen Gebührenzahlern sind und ordentlich Quote bringen, einem öffentlich-rechtlichen System mit Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsauftrag sind sie nicht würdig. Das gilt auch für die mangelnde Flexibilität des ARD-Systems bei wirklich wichtigen aktuellen Ereignissen, wozu zweifellos auch die revolutionären Umwälzungen in Nordafrika gehören. Selbstverständlich ist eine schnelle Reaktion beim Fernsehen deutlich schwieriger und aufwändiger als bei den Radioprogrammen; sie muss aber möglich sein und ist es eigentlich auch, wie wir seit dem 11. September 2001 wissen.

Dazu gehört auch der Mut, mal eine Programmänderung zu entscheiden, die sich im Nachhinein als mehr oder weniger überzogen herausstellt. Die Live-Übertragung der eher inhaltsarmen Rede des scheidenden ägyptischen Staatspräsidenten Husni Mubarak am Abend des 1. Februar wäre eine solche (falsche) Entscheidung gewesen. Aber wer weiß schon vorher, ob der Potentat nicht vielleicht doch seine sofortige Demission ankündigt?

Geteilte Meinungen gibt es über die Live-Übertragungen (etwa von Al Jazeera) vom Tahrir-Platz. Reine Effekthascherei, um die Sensationsgier schaulustiger schlichter Gemüter zu stillen? Unzumutbares Sicherheitsrisiko für die beteiligten Reporter und Kameraleute? Oder doch Geschichte und Information aus erster Hand? Zugegeben: Auch mir kommen da einige Fragezeichen in den Sinn. Schließlich berichtet hier unter anderem ein Sender, der seinen Sitz in Doha hat – Hauptstadt des Emirats Katar, dessen oberste Scheichs – ähnlich wie Mubarak – alles andere als „lupenreine Demokraten“ sind und die sich als absolutistische Monarchen unter anderem diesen Haus-Fernsehsender leisten.

Dessen Reporter aber haben unter Lebensgefahr einen hervorragenden Job gemacht seit dem Beginn der Demonstrationen in Ägypten am 25. Januar. Sie waren mitten im Geschehen, wurden teils verhaftet, teils vom Mubarak-Mob durch die Straßen gejagt und verletzt und trugen mit ihrer teilweise dramatischen Live-Berichterstattung (inklusive ihrer TwitterBeiträge) maßgeblich dazu bei, dass die Protestbewegung und die Übergriffe der Polizeischergen auf die Demonstranten weltweit wahrgenommen wurden. Wenn es tatsächlich zum völligen Ende des Mubarak-Regimes in Ägypten kommen sollte, dann hat Al Jazeera einen großen Anteil daran.

Jeder weitere Sender weltweit, der ebenfalls live berichtete oder die Al Jazeera-Bilder (zum Teil sogar unter Creative Commons-Lizenz) direkt übernahm, multiplizierte die Wirkung dieser Bilder – nicht das Schlechteste, was man über ein Fernsehprogramm sagen kann. „Das Erste“ und das ZDF-Hauptprogramm gehörten aber weitgehend und lange nicht dazu.

Möglich, dass die Mehrzahl der Zuschauer in Deutschland darauf keinen Wert gelegt hat. Das kann allerdings zum Einen eine Frage der Gewohnheit sein (weil ARD und ZDF bei der Programmgestaltung immer häufiger von einem recht anspruchslosen Durchschnittszuschauer auszugehen scheinen und ihn damit erst recht heranzüchten), zum Andern darf ein öffentlich-rechtliches Programm aber nicht durchgehend ein Mehrheitenangebot sein. Auch die informationshungrige Minderheit (wozu ich als Medienprofi und Nachrichten-Junkie zugegebenermaßen gehöre) muss in einem Vollprogramm ausreichend bedient werden; eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

Update 10.2.: Heute hat ZDF-Chefredakteur Peter Frei im „Tagesspiegel“ seine Sicht der Ägypten-Berichterstattung dargelegt – unter anderem mit der Feststellung, dass sich ZDF und ARD nicht für News-Junkies eignen. Na gut, dann weiß ich ja jetzt Bescheid.

4 Gedanken zu „Eher stürzt ein Regime als ein Programmschema (Update 10.2.)

  1. Die Herren Gniffke und Herres begründen den Umstand, dass nur zeitlich sehr begrenzt über Ägypten berichtet wird, damit, dass es sich beim Ersten ja um ein „Vollprogramm“ handelt, zu dem neben der politischen Berichterstattung eben auch Fernsehfilme, Boulevard- oder Satiresendungen gehörten (Sport wurde nicht aufgeführt). An diesem Wochenende wurde aber genau diese Begründung durch die ARD-Programmplanung ad absurdum geführt. Da gab es von Freitag bis Sonntag jeden Tag mehr als 10 Stunden Sport, teilweise bis in den späten Abend hinein. Von einem „Vollprogramm“ kann da also überhaupt nicht die Rede sein. Fragt sich nur, ob die verantwortlichen Herren überhaupt merken, wie schwachsinnig ihre Argumentation war/ist.

  2. Genau das wollte ich mit der Formulierung „extensive Live-Übertragungen“ auch andeuten.

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