Motiv-Recherche zur Rätsellösung

Angehende Kriminalisten wissen es spätestens am dritten Tag ihrer Ausbildung: Die Suche nach dem Motiv einer Tat, oder besser der Motivation, führt meist auf direktem Weg zur Aufklärung. Die zentrale Frage ist also nicht das aus Kriminalfilmen bekannte Prinzip whodunit?, sondern why did he/she do it? Beantwortet wird sie in der Regel durch intensive Recherchen im Umfeld von Opfern und Verdächtigen, lange Befragungen und psychologisches Einfühlungsvermögen.

Liegt hier vielleicht schon die Erklärung dafür, warum Journalisten offenbar nur wenig von den Kriminalisten lernen wollen, obwohl doch erst die Beantwortung der „Warum?“-Frage eine komplette Story ergibt? Denn nicht nur in der Kriminalistik, auch im alltäglichen Leben – von lokal bis global – existiert keine Aktion oder Reaktion ohne Motivation: Der Vorsitzende des Kleintierzuchtvereins tritt urplötzlich und vermeintlich grundlos zurück, der Star eines Bundesliga-Teams will seinen Vertrag vorzeitig beenden und den Verein wechseln, ein langjähriger Spitzenpolitiker gibt seine Posten auf, eine Aktiengesellschaft will ihr Grundkapital erhöhen, ein mittleres Unternehmen will einen weitaus größeren Konkurrenten übernehmen, eine Partei setzt im Koalitionsvertrag eine Steuerermäßigung für eine bestimmte Branche durch, ein stadtbekannter Bauunternehmer spendet der privaten Kindertagesstätte eine namhafte Summe – alles Vorgänge mit komplexem Hintergrund.

Diesen zu recherchieren gehört zum echten investigativen Journalismus, der uns Volontären leider vor gut drei Jahrzehnten in der Ausbildung bei der Tageszeitung kaum beigebracht wurde und der wohl auch heutzutage nur selten vermittelt wird. Allzu oft werden Lesern, Hörern und Zuschauern maximal fünf der sechs journalistischen W-Fragen beantwortet, das „Warum?“ bleibt ausgespart oder wird nur oberflächlich behandelt. Dabei könnte das Herausarbeiten der echten Motivation sogar zu einer komplett anderen Beurteilung des „Was?“, „Wer?“, „Wo?“, „Wann?“ und „Wie?“ führen.

Nur selten sind dabei die offensichtlichen und freiwillig genannten Gründe die wahre Motivation, auch wenn der Betroffene vielleicht selbst daran glaubt. Vieles spielt sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle im Unterbewussten ab – Psychotherapeuten bestreiten mit diesem Wissen ihren gesamten Lebensunterhalt (und da diese ebenfalls über ein Unterbewusstsein verfügen, benötigen sie zur schadenfreien Fortsetzung ihrer Arbeit regelmäßige Supervision – sozusagen die Motivations-Recherche für die Motivations-Rechercheure).

Sie kennen dieses Phänomen vielleicht schon aus Ihrem familiären Umfeld: Ihr Vater war viele Jahre begeisterter Kinogänger, will aber jetzt plötzlich nicht mehr mit Ihnen den neuesten Tarantino-Streifen sehen? Seine Erklärung: „Diese neuen Filme sind mir zu brutal, zu schnell geschnitten und eine echte Handlung haben die auch nicht mehr“. Klingt erstmal einleuchtend, es könnte aber auch sein, dass er wegen eines noch nicht diagnostizierten „Grauen Stars“ das Geschehen auf der Leinwand kaum noch verfolgen kann, oder dass er wegen des nachlassenden Hörvermögens die Dialoge nur bruchstückhaft wahrnimmt. Solche Alterserscheinungen sind häufig derart bedrückend, dass sie vom Bewusstsein „unter dem Deckel“ gehalten werden, also auch der Außenwelt nicht mitgeteilt werden können.

Und da sind wir wieder beim Bauunternehmer mit der Spende an die Kindertagesstätte. Von der rationalen Motivation her scheint alles klar: Der Mann will Gutes tun, um das Image seines Unternehmens zu verbessern und um direkt oder indirekt neue Bauaufträge zu erhalten. Bei der Wahl zwischen einem rationalen und einem emotionalen Motiv gewinnt aber meistens das emotionale. Will er nicht vielleicht eher sein Gewissen entlasten, weil er als vielbeschäftigter Unternehmer kaum Zeit für die eigenen Kinder hatte? Oder denkt er gar an die eigene Kindheit, als sein (kürzlich verstorbener) Vater ihn während der Gründungsphase des Unternehmens sträflich vernachlässigt hatte?

Die gleiche Nachricht kann also je nach Rechercheaufwand zu einem völlig anderen Artikel in der Lokalzeitung führen und dem Leser ein sehr unterschiedliches Bild des Bauunternehmers vermitteln. Bei Unterschlagung des Motivationsaspekts ist er nur ein berechnender Geschäftsmann, bei gründlicher Arbeit des Lokaljournalisten ein Mensch mit nachvollziehbaren Gefühlen.

Solche Recherchen können auf jeder Ebene – etwa im Berliner Politikbetrieb – natürlich auch zu gegenteiligen Ergebnissen führen. Wie viele Entscheidungen sind dort schon gefallen, die nicht (wie vorgegaukelt) dem „Wohl der Menschen im Land“ dienten, sondern nur dem Wahl- und Machtkalkül? Welcher Politiker ist nur Apparatschik der Funktionärskaste und welcher agiert als menschliches Wesen? Das herauszuarbeiten, sollte eigentlich die Arbeit eines Journalisten sein und die findet nicht auf Pressekonferenzen statt.

Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich behaupte, dass Journalisten von Kriminalisten lernen können. Damit ist nicht die neue Unsitte gemeint, Detekteien im Auftrag der Redaktion auf Prominente loszulassen, um mutmaßliche private Fehltritte, Liebschaften und uneheliche Kinder zu enthüllen. Das wäre nur Suhlen um Schlamm und hat mit Journalismus nichts zu tun. Eine Motivations-Recherche bei den daran beteiligten „Redakteuren“ und „Reportern“ wäre sicher spannend.

2 Gedanken zu „Motiv-Recherche zur Rätsellösung

  1. Wer will denn die wirklichen Motive von Politikern und Prominenten wirklich wissen? Waere denn dann nicht die gesamte Welt erschuettert, dass diese Leute genau wie alle anderen Nicht-Politiker und Nicht-Prominente, den Rasen des Nachbarn immer gruener finden.

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